Steile Thesen

Der US-Linguistikstar Daniel Everett war zu Gast beim Internationalen Literaturfestival Berlin

Von Katharina Granzin

Immer abends um sechse ist Raoul Schrott im Einsatz. Beim Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) gibt der Autor seinen Einstand als Moderator einer ganzen Reihe, der man den Titel „Evolution der menschlichen Kultur“ gegeben hat. Mit Belletristik hat das wenig bis gar nichts zu tun. Am Freitag hatte Schrott mit dem Amerikaner Daniel Everett einen internationalen Star der Linguistik zu Gast.

Everett machte vor Jahren Furore mit seinem Buch „Das glücklichste Volk“ über seine Jahre als Feldforscher beim Volk der Pirahã im Amazonasgebiet. Sein neuestes Buch „How Language Began: The Story of Humanity’s Greatest Invention“ liegt bisher nicht in deutscher Übersetzung vor, aber Everett gab einen anschaulichen Abriss seiner Hauptthese: Anders als in der bisherigen Forschung zum Thema angenommen, die meist nur den Homo sapiens im Besitz der Sprache sieht, meint Everett, dass bereits der Homo erectus über Sprache verfügt habe.

Können Gorillas sprechen?

Deutsch gehöre nicht zu den Sprachen, in denen er einen Vortrag zu halten imstande sei, entschuldigt er sich vorab, aber dank einer glasklaren Diktion und seiner Fähigkeit (die zweifellos auch aus seiner ehemaligen Tätigkeit als Missionar resultiert), Dinge prägnant zu vereinfachen, hängt das Publikum an seinen Lippen. Der Frühmensch Homo erectus lebte um ein Vielfaches länger auf der Erde als bisher unsere eigene Spezies, nämlich vor circa 1,7 Millionen bis circa 200.000 Jahren. Der Homo sapiens ist erst seit etwa 300.000 Jahren belegt. Es gibt mehrere biologische Parameter, die gemeinhin gegen die Sprachfähigkeit von Homo erectus ins Feld geführt werden: die geringe Hirnmasse im Verhältnis zum Körper (Homo erectus war deutlich kräftiger ausgefallen als später der moderne Mensch), der unzulänglich ausgebildete Sprechapparat (Everett gibt zu, dass Homo erectus höchstens Laute erzeugen konnte, wie ein Gorilla sie machen würde) und das Nichtvorhandensein eines vollständigen FOXP2-Gens, das heutzutage allgemein anerkannt ist als „Sprachgen“ (und das auch in Neanderthaler-DNA nachgewiesen wurde). Diesen Indizien setzt Daniel Everett andere entgegen: Wenn man Sprache definiert als ein System von Symbolen (im Unterschied zu einem System von Symbolen mit komplexer Syntax, wie Everetts wissenschaftliche Opponenten es tun), sei es sehr wahrscheinlich, dass bereits Homo erectus ein solches entwickelt habe.

Siedlungsfunde belegen eine funktional entwickelte Organisation des Homo-­erectus-Gemeinschaftslebens. Werkzeugfunde belegen die Fähigkeit zu symbolischem Denken (nach Everett ist auch ein Werkzeug ein Symbol, da es Assoziationen von Handlungen hervorruft). Siedlungsspuren belegen die Anwesenheit von Homo erectus auf Inseln, die nur auf dem Wasserweg erreicht worden sein konnten. Dieses Seefahrertum habe aber die Fähigkeit zur Kommunikation mittels eines Zeichensystems vorausgesetzt.

Ein Stündchen auf einem Literaturfestival ist nicht der geeignete Rahmen, um Everetts kontroverse Thesen hinreichend zu diskutieren. Aus dem in Bann geschlagenen Publikum kommen abschließend nur Fragen, die deutlich belegen, dass der begnadete Rhetoriker an diesem schwülen Spätsommerabend einen Haufen neuer Fans gewonnen hat.