: Für jeden einen Platz
TEILHABE In anthroposophischen Behindertenwerkstätten werden die Mitarbeiter ganzheitlich gefördert. Das verlangt auch von den Betreuern viel, doch die ganze Gemeinschaft profitiert von diesem Einsatz
Buntes Papier, Pinsel und Farben, Sonne scheint durch die hohen Fenster, es riecht nach Holz. Junge Männer und Frauen arbeiten konzentriert, schneiden Papier zu, malen und kleben. Das Ergebnis: bunte Notizbücher, Mappen und Kalender, denen man ansieht, dass sie mit großer Sorgfalt gefertigt worden sind. Hergestellt haben sie die Mitarbeiter der Buchbinderei im Kaspar Hauser Therapeutikum, einer Behindertenwerkstatt in Berlin.
Rund 700 solcher Werkstätten gibt es in Deutschland, etwa 5 Prozent arbeiten nach anthroposophischen Grundsätzen. Die Einrichtungen bieten produktive Beschäftigung für Menschen, die durch Behinderung oder Krankheit auf dem ersten Arbeitsmarkt nur schwer ihren Platz finden würden. Für deren Teilhabe an allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens sind die Werkstätten ein wichtiger Faktor. Das Angebot ist vielfältig, denn die Interessen und Fähigkeiten jedes Mitarbeiters sollen individuell gefördert werden. Holz- und Textilwerkstätten sind in den meisten Einrichtungen Standard, auch getöpfert, gekocht und gegärtnert wird häufig. Jede der Werkstätten funktioniert wie ein kleiner Handwerksbetrieb. Die Kosten für Material, Ausstattung und die Löhne der Beschäftigten müssen selbstständig erwirtschaftet werden.
Im Kaspar Hauser Therapeutikum gibt es zusätzlich Kunst- und Musiktherapie, eine Theatergruppe und den Kicker-Treff. Angebote, mit denen die Beschäftigten über die tägliche Arbeit hinaus gefördert werden. „Wir wollen die Menschen nicht nur im beruflichen Bereich begleiten, sondern sie auch sozial und persönlich stärken“, sagt Heike Wieblitz, die im Sozialdienst tätig ist. Wichtig sei, die behinderten Mitarbeiter den gesamten Herstellungsprozess erleben zu lassen, sodass sie das am Ende das fertige Ergebnis ihrer Arbeit sehen könnten. „Die eigene Produktivität und Selbstwirksamkeit zu erfahren stärkt das Selbstbewusstsein enorm“, erzählt Anett Sprang, die Werkstattleiterin des Kaspar Hauser Therapeutikums.
Bei der Gestaltung des Arbeitsalltags wird darauf geachtet, dass Raum für menschliche Begegnungen bleibt. „Wir beginnen den Tag mit einem Morgenkreis, bei dem jeder Mitarbeiter erzählen kann, was er erlebt hat oder was ihn beschäftigt. Zum Feierabend sitzen wir noch einmal so zusammen“ erzählt Christof Mellinghaus. Er ist Geschäftsführer der Karl-Schubert-Gemeinschaft, einem anthroposophischen Werkstattträger in Filderstadt. Das Zusammenleben in der Werkstattgemeinschaft wird von den behinderten Mitarbeiter aktiv mitgestaltet. Die Werkstatträte haben im Haus ein kleines Café eingerichtet und betreiben es selbstständig. Als Treffpunkt für das gemeinsame Frühstück fördert es ganz nebenbei das soziale Miteinander. Im Ortskern von Filderstadt hat die Gemeinschaft vor drei Jahren eine kleine Nudelmanufaktur eingerichtet, in der auch der Verkauf von behinderten Mitarbeitern übernommen wird. Den dabei entstehenden Kontakt mit den Menschen im Ort findet Mellinghaus besonders wertvoll: „Das ist Inklusion pur.“
MAGDALENA SCHMUDE