: Der Unbeugsame
ZENSUR Ragip Zarakolu schreibt in der Türkei über Kurden und Armenier. Dafür kommt er seit Jahrzehnten immer wieder in Haft. Der Fortschritt für ihn? Zumindest wird er nicht mehr gefoltert, sagt er sarkastisch
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Wer Ragip Zarakolu das erste Mal trifft, kann sich nur schwer vorstellen, dass dieser milde, freundliche ältere Herr der ausdauerndste Verfechter gegen die Zensur und für die Meinungsfreiheit in der Türkei ist. Der 64 Jahre alte, eher kleine Mann mit dem weißen Vollbart wirkt zurückhaltend und defensiv. Lediglich seine Spottlust blitzt bei ihm immer wieder durch, und man versteht dann doch ziemlich schnell, dass Ragip Zarakolu wohl wenig Angst vor den Mächtigen in der Türkei hat.
Wer ihn nach dem demokratischen Fortschritt in seinem Land fragt, reizt vor allem seinen Sarkasmus. Ragip, mit dem man schnell beim Du ist, macht sich da wenig Illusionen. Die Begeisterung mancher Liberaler über die AKP-Regierung von Tayyip Erdogan hat er nie geteilt. Er hielt sie von Beginn an für islamisch ummantelte Nationalisten, und Erdogans autoritärer Umgang mit Journalisten und Schriftstellern hat ihn in seinen Vorbehalten bestätigt. „Ich war in den frühen Siebzigerjahren das erste Mal im Gefängnis, wegen eines Berichts, den ich für Amnesty International verfasst habe. Damals wurde ich gefoltert. Jetzt war ich wieder für mehr als fünf Monate im Gefängnis, weil ich einen Vortrag in der Akademie der kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie gehalten habe. Der demokratische Fortschritt bestand darin, dass ich jetzt nicht mehr geschlagen wurde.“
Seit mehr als 40 Jahren kämpft Ragip Zarakolu jetzt schon mit der Zensur in der Türkei, und er lässt sich einfach nicht einschüchtern. Gerichtsverfahren, Knast, Folter, Bombenanschläge – nichts konnte ihn bislang davon abhalten, seine Meinung zu sagen und Bücher zu publizieren, die er für notwendig hält.
Nach seiner ersten Haft gründete er 1977 zusammen mit seiner damaligen Frau Ayse Nur Zarakolu den Belge-Verlag. Belge war damals vergleichbar mit Verlagen in Berlin und Frankfurt, die linke Theorie und internationale Vordenker für ein anderes Leben veröffentlichten. Doch was sich in Deutschland zumeist irgendwann erschöpfte, blieb in der Türkei eine nie versiegende Herausforderung. Vor allem zwei Themen haben Ragips verlegerisches und publizistisches Werk bestimmt: die Kurdenfrage und der Völkermord an den Armeniern. Schon die Beschäftigung mit einem der beiden Themen kam in der Vergangenheit einem politischen Selbstmord gleich, und offene Meinungsäußerungen zu beiden Themen können selbst heute noch mit einem Gang ins Gefängnis enden, wie Ragip zuletzt im Oktober vergangenen Jahres feststellen musste.
Unter der Leitung des Ehepaares Zarakolu – Ayse Nur starb im Jahr 2002, Ragip ist jetzt in zweiter Ehe mit der amerikanischen Fotografin Katherine Holl verheiratet – publizierte der Belge-Verlag als erstes Verlagshaus Bücher zur Kurdenfrage, zu einer Zeit, als die Kurden offiziell noch als „Bergtürken“ galten und ihre Sprache als ein minderwertiger türkischer Dialekt angesehen wurde. Der Autor, Ismail Besikci, ein türkischer Soziologe, der zeit seines Lebens über die Kurden publiziert hat, war damals Dauergast im Knast, und sein Verleger wurde ebenfalls permanent mit Prozessen überzogen.
Doch statt zurückzustecken oder zumindest taktische Kompromisse mit den Zensurbehörden zu machen, setzte Ragip noch eins drauf. Er veröffentlichte eine türkische Übersetzung des französischen Historikers Yves Ternon über den Völkermord an den Armeniern. 1999 folgte der berühmte Roman von Franz Werfel „Die 40 Tage des Musa Dagh“, und zuletzt erschien im Belge-Verlag die türkische Übersetzung der Dokumente des deutschen Auswärtigen Amts über den Völkermord an den Armeniern, die der frühere Spiegel-Redakteur Wolfgang Gust in jahrelanger Arbeit zusammengestellt hat. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte das Manuskript, erzählte Ragip später, „aber ich hatte noch eine Kopie versteckt“. Im Mai letzten Jahres wurde Ragip deshalb mit der Ehrenmedaille des armenischen Staates ausgezeichnet. Er ließ es sich auch nicht nehmen, persönlich nach Eriwan zu reisen und die Auszeichnung entgegenzunehmen.
„Es lohnt sich nicht“, meint Ragip, „sich die Köpfe der Zensoren und politischen Staatsanwälte zu zerbrechen. Es ist ziemlich willkürlich, wie die denken. Bei manchen Büchern war ich überrascht, dass gar nichts passierte, bei anderen, die wir für völlig harmlos hielten, wurde die gesamte Auflage beschlagnahmt.“
Im April diesen Jahres wurde Ragip Zarakolu nach fünf Monaten und 13 Tagen Untersuchungshaft aus dem Gefängnis entlassen. Der Prozess gegen ihn und mehr als 40 weitere Istanbuler Intellektuelle, denen allesamt vorgeworfen wird, sie würden die kurdische Terrororganisation PKK unterstützen, begann im September und wird im Oktober fortgesetzt. Sein 35 Jahre alter Sohn Deniz, der ebenfalls im Oktober letzten Jahres verhaftet wurde, sitzt immer noch im Hochsicherheitsgefängnis in Kocaeli, 100 Kilometer östlich von Istanbul.
Mit dem Sohn in U-Haft
Die letzten Wochen seiner U-Haft durfte Ragip mit seinem Sohn in einer Zelle verbringen, jetzt sorgt er sich darum, wann auch Deniz endlich aus dem Gefängnis entlassen wird. Seinem Sohn wird ebenfalls ein Vortrag vor der Akademie der gleichen kurdischen Partei zur Last gelegt. Nun ist diese Partei allerdings mit 30 Abgeordneten im Parlament vertreten, und auch ihre Parteiakademie ist nicht verboten. Also eigentlich kein Grund für eine Anklage. Doch so naiv können nur Westler sein. Nach Meinung von Ragip geht es dem Staat zurzeit darum, die Partei politisch zu isolieren und eine Zusammenarbeit mit türkischen Intellektuellen zu verhindern.
Trotzdem hat Ragip um sich selbst auch jetzt keine Angst. Mehr als vierzig Verfahren, in denen er bereits angeklagt war, haben ihn Routine im Umgang mit der Justiz entwickeln lassen. Außerdem schützt ihn mittlerweile eine gewisse Prominenz. Er ist Vorsitzender des Anti-Zensur-Komitees des Verlegerverbandes, schon 1998 bekamen er und seine damalige Frau Ayse den Friedenspreis der Internationalen Verleger-Union verliehen. Besonders in Skandinavien ist Ragip sehr bekannt und hat bereits etliche Auszeichnungen bekommen. In diesem Jahr wurde er sogar von Abgeordneten des schwedischen Parlaments für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Die Zukunft der Türkei und der kritischen Geister des Landes sieht er eher pessimistisch. „Sie, die Mächtigen, haben uns immer wieder mehr Demokratie und Freiheit versprochen – nie ist etwas daraus geworden.“