: Türöffnertier & Geistergeschichte
Die 17 Filme auf der Dokfilmwoche zeigen ein breites Spektrum des viel diskutierten Genres Dokumentarfilm, ersparen einem zum Glück aber autistisch-artistische Egotrips und Agitprop-Dok. Unpolitisch ist das mitnichten
Von Silvia Hallensleben
Über den Dokumentarfilm und seine Ausformungen lässt sich gut grundsätzlich streiten. Ja, in letzter Zeit wird der Begriff – weil er sich nicht sauber vom Fiktiven trennen lasse – immer öfter ganz aus den Kategorisierungen von Filmfestivals oder Sammlungen gestrichen. Ganz undogmatisch machen es dagegen die FilmenthusiastInnen vom Peripher-Verleih, die nun schon zum sechsten Mal auf ihrer Kreuzberger Dokfilmwoche einfach all das präsentieren, was sie auf ihren Festivalreisen für sehenswert befunden haben. Dabei zeigt die Auswahl der insgesamt 17 Filme große Lust am Auffächern eines breiten Spektrums künstlerischer Positionen, spart aber erfreulicherweise autistisch-artistische Egotrips ebenso aus wie Agitprop-Dok.
Unpolitisch geht es deswegen keineswegs zu: etwa wenn die junge, in Deutschland lebende Filmemacherin Alexandra Wesolowski in „Impresa – Das Fest“ das im europäischen Spielfilm populäre Sujet des Familienfestes ins Dokumentarische wendet und zur goldenen Hochzeit von Tante und Onkel in die polnische Heimat reist. Dort findet sie sich fremd mitten in der eigenen Verwandtschaft – umzingelt von Cousinen und Onkels, die die neue PIS-Regierung anbeten und ein sogenanntes Gender für das neue, todbringende, von der bösen EU oktroyierte Gespenst halten. Die in Deutschland gemachten handfesten Erfahrungen der Filmemacherin sind in der Wahrnehmung der Verwandten nur Fake News.
Auch Abel Ferrara geht in seinem ersten Dokumentarfilm „Piazza Vittorio“, zurück in die eigene familiäre Vergangenheit und erforscht das Gebiet um den gleichnamigen Platz, der zu einem auch symbolisch aufgeladenen Zentrum migrantischen Lebens in der italienischen Hauptstadt geworden ist. Er findet Armut, Rassismus und Ressentiments, aber auch Kooperation und Hilfe – und einige Freunde (darunter Willem Dafoe) als Aficionados. Hat Kameramann Denis Lüthi „Das Fest“ in ausgeklügelten fast schon verklärend schön kadrierten Einstellungen festgehalten, so geht Ferrara mit einer selbst geführten, nervösen Handkamera manchmal vielleicht zu direkt ins Geschehen, etwa wenn er schlafende Betrunkene filmt. Wenn er mit einem zappligen Straßenjungen über das Honorar für ein 5-Minuten-Interview verhandelt (das am Ende wohl nicht einmal eine Minute dauert), gibt das einen Eindruck vom Drehumfeld des Films.
Auch die junge koreanische Filmemacherin Boram Kim nimmt Verhandlungen über ihren Film in die Montage der fertigen Arbeit auf. Es ist ihr scheinbar nicht filmwürdiges Sujet, für das sie sich bei den auf der Straße angesprochenen Passanten immer wieder rechtfertigen muss. Denn ihr Protagonist ist ein alter, lahmender Hund, der auf dem Dach einer Vorstadt von Seoul ein provisorisches Obdach gefunden hat und durch den Film führt. Dabei nimmt Kims ungewöhnlicher, ganz aus subjektiver Perspektive lyrisch hingetupfter Film „Baek-gu“ (Weißer Hund“) das Tier auch als Türöffner, um in einige dunklere Seiten der koreanischen Gesellschaft eintauchen zu können.
Wie die römische Piazza zeigen auch die von Treppen durchzogenen Hügel von Seoul eine starke eigene Präsenz. Prägnantester und geheimnisvollster Ort des Programms aber ist ein auf den ersten Blick unauffälliges Gelände am Wiener Schottenring, das Maya McKechneay zum Protagonisten ihres Filmdebüts „Sühnhaus“ macht. Heute beherbergt hier ein hässlicher Betonklotz das Wiener Polizeipräsidium, sodass Kameramann Martin Putz im Inneren des Gebäudes nur Flure ohne Menschen drehen darf. Die Geisterstimmung passt perfekt zu der Recherche, die die Filmemacherin tief in die Vergangenheit des Ortes führt: in ein Theater, in dem 1881 bei einem Brand 386 Menschen starben – und ein auf dessen Trümmern errichtetes Wohnhaus, von dem sich eine frühe Patientin Sigmund Freuds in den Tod stürzte. Dessen Psychoanalyse webt einen der vielen roten Fäden durch den Film, der auch um die Macht sozialer Hierarchien kreist. Dabei zeigt sich das Talent der Filmemacherin im Lesen von Bildern und Geschichten ebenso wie ihr Gespür für das Zusammenpuzzeln und Visualisieren diverser Erzählspuren.
Eine Wiener Geistergeschichte, die mit vielen Bezügen an die aktuelle europäische Politik andockt. Umso unverständlicher, dass „Sühnhaus“ wie die meisten auf der dokfilmwoche gezeigten Filme in Deutschland keinen regulären Kinostart bekommen hat. Anders ist das bei den Arbeiten von Fred Wiseman oder Volker Koepp, die nach den Previews hier bald ins Kino kommen. Der am 5. Juli verstorbene große Dokumentarist Claude Lanzmann wird in einem Special mit der Vorführung seiner vierteiligen Reihe von Interviewporträts, „Vier Schwestern“. geehrt.
30. August bis 5. September in den Kinos fsk und Sputnik.
dokfilmwoche.peripherfilm.de
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