zwischen den rillen
: Otoakustische Emission

Jung an Tagen: „Agent im Objekt“ (Editions Mego)

Es ist fast stockdunkel. Nur das Licht eines Laptop-Bildschirms wird von ein paar Brillengläsern reflektiert und lässt Schemen von Tanzenden erkennen. An diesem Abend ist der Wiener Techno-Produzent Stefan Juster alias Jung an Tagen mitten im Publikum. Seine Arbeitsinstrumente sind ein Klapprechner, der vor ihm auf einem Hocker steht, und die Boxen, die den Saal frappierend klar beschallen. Durch den Raum zucken polyrhythmische Beats, die Stimmung ist aufgekratzt.

Dann passiert etwas, das den körpereigenen Endorphinspiegel explodieren lässt. Die Beats sind plötzlich verstummt, nur zwei hochfrequente Sinuswellen schrauben sich durch den Raum und dann in das eigene Innenohr. Die leicht zueinander verstimmten Sinuswellen produzieren dort das, was man fachsprachlich otoakustische Emission nennt: eine dritte Schwingung mit einer eigenen Frequenz, die nur im eigenen Gehörgang leise kitzelnd zu hören ist. Die Körper der Tanzenden sind in diesem Moment Teil der Musik – ein ungemein euphorisierendes Gefühl.

Dieser psychoakustische Effekt muss jedoch kontrolliert eingesetzt werden, erläutert Juster: „Ich stelle mich immer vor die Anlage, weil ich genau das hören muss, was das Publikum hört. Ich sehe die Boxen als meine Instrumente. Wenn ich da ein wenig zu laut dreh, platzen ein paar Köpfe.“ Auf seinem aktuellen Album „Agent im Objekt“ versammelt Juster zwölf Stücke, die sich entsprechend anschicken, die Techno-Karten neu zu mischen. Seine Loops sind phasenverschoben, die Beats fragil und trennscharf, die Rhythmik ist vertrackt und verzichtet auf tiefe Bässe. Die Oberflächenstimmungen erinnern an frühe Elektronik und die warm reflektierenden Ambient-Produktionen der frühen 1980er Jahre, die jegliche Baustatik außer Kraft setzende Architektur verweist auf experimentellen Industrial und den Glitch der IDM-Ära. Und immer wieder überrascht die Musik den Hörer mit Effekten, die man sonst aus der Avantgardemusik kennt.

Die kompositorischen Techniken, die Juster dabei einsetzt und zu denen neben den distorsiv produzierten otoakustischen Emissionen auch etwa der Einsatz von sogenannten Shepard-Tönen gehört, zieht er aus Arbeiten von Komponisten wie György Ligeti oder der 2009 verstorbenen US-Komponistin Mary­anne Amacher. Amacher veröffentlichte 1999 das Album „Sound Characters (Making the Third Ear)“, auf dem sie den otoakustischen Effekt erstmals einsetzte. Sound-Künstler wie Marcus Schmickler, Florian Hecker und Bernd Schurer arbeiten ebenfalls seit Längerem mit der Kompositionstechnik, auf dem Dancefloor wurde sie aber bislang noch nicht eingesetzt.

Techno funktioniert seit jeher als Ekstase-Versprechen. Juster beherrscht das Spiel mit den Spannungsbögen, aber sein summarischer Zugriff auf Geschichte und Kompositionstechniken der elektronischen Musik zeitigt eine weitaus raffiniertere Musik. Die Form folgt hier nicht einfach der Funktion, sondern wird neu gedacht. Juster hat in Wien Zeitbasierte Künste mit Schwerpunkt Experimentalfilm studiert, Musik denkt er entsprechend interdisziplinär. Bis in die Struktur hinein schreibt der Anfang-dreißig-Jährige, der bereits seit gut zehn Jahren experimentelle Musik produziert, die Katharsis-Verweigerung und löst dennoch das Versprechen eines jeden Raves ein: Ekstase buchstäblich als Aus-sich-heraus-Treten. Bei Juster bedeutet Rave zugleich Klanginstallation und Happening: „Wenn es ganz finster ist und das Publikum um mich rumsteht, wird es am intensivsten.“ Bastian Tebarth