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Archiv-Artikel

Überleben heißt schreiben

DISSIDENZ Liao Yiwu hat mit seiner Sprachmacht den Entrechteten Chinas ein literarisches Denkmal gesetzt. Nun liegt sein Buch über das Massaker am Tiananmen-Platz von 1989 auf Deutsch vor. Am Sonntag erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Liao Yiwu

■ wurde am 4. August 1958 in Yanting geboren und wuchs während der großen Hungersnot der 60er Jahre in China auf. 1989 verfasste er das Gedicht „Massaker“, wofür er vier Jahre inhaftiert wurde. Bekannt wurde der Schriftsteller, Dichter und Musiker durch sein Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten“ (dtsch. 2009). Als 2011 sein Zeugenbericht aus dem Gefängnis „Für ein Lied und hundert Lieder“ auf Deutsch erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seitdem lebt er in Berlin.

VON DETLEV CLAUSSEN

Am 14. Oktober 2012 wird Liao Yiwu die Rede eines Mannes halten, der nach konfuzianischer Vorstellung „weiß, was seine Bestimmung ist“. Was er genau sagen wird, weiß ich nicht, aber das Bewusstwerden seiner Bestimmung ist aus seinen Texten ablesbar. Sein individuelles Schicksal ist mit einem weltgeschichtlichen Datum, dem 4. Juni 1989 und seinen Folgen, verknüpft – mit dem Tienanmen-Massaker, mit dem der Zerfall des Kommunismus begann. In diesem Schrecken schrieb Liao das Gedicht „Massaker“, eine Art Todesfuge auf Chinesisch. Es kursierte als Video im Untergrund und brachte Liao vier Jahre im chinesischen Gulag ein.

Für den Chinareisenden ist die Repressionsgewalt noch weniger sichtbar als für den Durchschnittschinesen. Liao hat seine Bestimmung darin gefunden, dem Durchschnittschinesen wie der von China faszinierten westlichen Welt die Lehre des Gulag mitzuteilen, nämlich, es gebe Schlimmeres zu fürchten als den Tod. Diese Lehre ist der konzentrierte Erfahrungsgehalt des Short Century, das mit der Oktoberrevolution begann und mit dem Tienanmen-Massaker endete. Europäer, die Nationalsozialismus und Stalinismus hinter sich haben, können sie teilen.

Schreiben kann so schön aussehen. Wenn man die Faksimile der Kassiber aus Liaos Gefängniszeit anschaut, wird man von dem Schriftbild überwältigt. Aber erst wenn man die Geschichte kennt, ahnt man, welche Angst und Qual zu dieser Schönheit geführt haben. Ähnliches habe ich vor Jahrzehnten empfunden, als ich zum ersten Mal Walter Benjamins Miniaturen auf Zigarettenpapier sah, als ihm 1932 im antizipierten Exil auf Ibiza das Geld ausgegangen war.

Das Schreiben im chinesischen Gefängnis verlangt nicht nur Disziplin, sondern auch permanente Vorsicht und Schläue. Nur nicht entdeckt werden: Die dauernde Gefahr der Konfiskation zwingt einem einen bestimmten Rhythmus auf, eine Schriftgröße, eine verbergende Körperhaltung, Augen nah am Blatt. Wenn man alle Razzien überstanden hat, versucht der Autor Kassiber herauszuschmuggeln. Manches kommt an ein Ziel, das man nicht kennt; denn es gibt keine chinesische Öffentlichkeit – doch es gibt einen Samisdat, in dem Liaos Texte kursierten. Vor allem von seinem Schlüsselgedicht „Massaker“, das aus einem privilegierten Avantgardepoeten ein Hassobjekt der chinesischen Repressionsorgane machte.

Der 4. Juni 1989 veränderte Liaos Leben und Schreiben von Grund auf. Das hat er seinem „Lehrmeister Gefängnis“ zu verdanken, der ihm vier Jahre sein strenges, blutiges Gesicht zuwandte. „Ich bin dem Gefängnis dafür dankbar, dass es mir die Möglichkeit eröffnete zu begreifen, was Freiheit wirklich bedeutet, und dafür, dass ich die Manuskripte meiner Werke „Weiterleben“, „Han-Chinesen“ und „Der schwarze Tunnel“ dort schrieb. Ich bin dem Gefängnis dafür dankbar, dass ich dort die Möglichkeit hatte, das Spiel der chinesischen Hsiao-Flöte zu erlernen und dass ich lernte, in schwierigen Zeiten Trost in der Philosophie zu finden. Ich danke ihm dafür, dass ich von morgens bis abends mit so vielen zum Tode Verurteilten, Reaktionären, Menschenhändlern, Bauernkaisern, Räuberbandenchefs, Betrügern und Falschspielern zusammen sein durfte“, heißt es in einer der schönsten ungehaltenen Rede der Weltgeschichte.

Er entkam nach vier Jahren dem Gefängnis, er überlebte seine vier Selbstmordversuche. Wer sein Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“, 2011 auf Deutsch erschienen, gelesen hat, weiß, warum er auf keinen Fall ins Gefängnis zurückkehren wollte. Die Behörden hatten es ihm angedroht, falls er nach dem weltweit aufsehenerregenden Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ weiter im Ausland ungenehmigt publizieren würde.

In seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“, die in ihrer strengen Dichte dem „Trost der Philosophie“ von dem zum Tode verurteilten Boethius nicht nachstehen, formulierte Walter Benjamin auf seiner todbringenden Flucht vor den Nazis die Einsicht, es existiere kein „Dokument der Kultur“ das nicht zugleich „ein solches der Barbarei“ sei. Liaos ganzes Werk steht für diese Dialektik ein. Der inzwischen selbst einsitzende Nobelpreisträger Liu Xiabo schrieb seinem Freund Liao nach der Lektüre des Manuskripts „Für ein Lied und hundert Lieder“ lapidar: „Wegen deines Gedichts ‚Massaker‘ hast du vier Jahre im Knast gesessen, ich denke, das war es wert.“

Wenn wir von dem freundschaftlichen Verhältnis zwischen Liu und Liao hören, könnte man den Eindruck einer trotz aller Verfolgung etablierten Dissidentenelite gewinnen, wie wir sie aus der Zerfallszeit des osteuropäischen Realsozialismus kennen. China ist anders. Noch viel schärfer als in der untergehenden Sowjetunion liegen in der chinesischen Gesellschaft Hypermoderne und Archaik nebeneinander. In Sichuan ist das noch handgreiflicher zu erfahren als in Beijing oder Schanghai. In konzentriertester Form hat Liao dieses Nebeneinander im Knast gefunden, die einsame Hsiaoflöte inmitten einer Konzentrationslagergesellschaft. Als Liao aus der Haft entlassen wurde, war seine „bürgerliche“ Existenz zerstört. Like a rolling stone rollte er, als Straßenmusiker sein Geld verdienend, durch Sichuan und erlebte ganz China als Gefängnis, als ein Nebeneinander von absoluter Willkür und totaler Ohnmacht.

Liao ist dem chinesischen Gefängnis entkommen; aber zu einem hohen Preis, dem der Obdachlosigkeit, die er schon 2007 in der erwähnten wunderbaren Rede als seinen dritten Lehrmeister genannt hat: kein Zuhause, keine Heimat. Wer mit gespannter Aufmerksamkeit Liaos gesammelte Gespräche liest, kann erspüren, was das bedeutet. Das Tienanmen-Massaker hat das chinesische Haus zerstört; alle, die das überlebt haben, leiden unter dem, was man nach Auschwitz und endlosen Verleugnungen als Überlebensschuld bezeichnet hat. Sein neuestes Buch auf Deutsch „Die Kugel und das Opium“ trägt diesem kaum aushaltbaren Gefühl Rechnung. Schon „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ versuchte, diese Gefühlswelt zu bearbeiten, und der Leser fühlt sich erleichtert, wenn das junge Barmädchen „Fräulein Hallo“ sich die interessanten Lehr- und Wanderjahre eines chinesischen Intellektuellen im Archipel Gulag anhört, aber doch ermahnend sagt: „Keine Sentimentalitäten!“

Das Mitteilen einer ungeteilten Erfahrung, das ermöglicht Liaos Kunst – und das vermag nur große Kunst. Solschenizyns Novelle von Iwan Denissowitsch blieb literarisch sentimental, sein Werk „Archipel Gulag“ aber wirkte aufklärerisch. Solschenizyn wurde zu einem Scholochow der Lager; politisch eher ein Großrusse mit allen Scheußlichkeiten dieses Chauvinismus. Bei Liao muss man auf die Kunst achten, die eben nicht nur exotisches Drapee mit Flöte ist, sondern eigene Form.

Liaos künstlerische Form folgt der Logik der Sache. Im seinem neuesten Buch, „Die Kugel und das Opium“, kehrt er zur kunstvollen Gesprächsform zurück, die Geschichte durch das Erzählen von Lebensgeschichten fassbar macht. Aus der Sammlung der Gespräche entsteht ein episches Monumentalwerk – eine chinesische Odyssee, in der Liao Homer und Odysseus zugleich ist. Der deutsche Leser kennt bisher nur die Spitze des Eisbergs. Das neueste Buch konzentriert sich auf 1989 und die Folgen. In Amerika kursiert der Band „Gott ist rot“, der sich mit dem chinesischen Untergrundchristentum beschäftigt. Seine herzzerreißenden und staatsgefährdenden Gespräche nach dem Erdbeben in Sichuan 2008 müssen auf ihre Publikation noch warten.

Liaos Gesamtwerk erzählt von einer großen Zerstörung, einer kulturellen Katastrophe. Das Scheitern von Naturbeherrschung verschränkt sich mit den endlosen Schrecken gescheiterter Menschenbeherrschung. Liaos individuelle Lebensgeschichte ist determiniert von seinen noch nicht erwähnten frühen Lehrmeistern: Hunger und Schande. Als Kleinkind überlebte er 1958 die große Hungersnot, Folge des wahnwitzigen maoistischen großen Sprungs nach vorn. Die Lehren von Hunger, Schande, Obdachlosigkeit und Gefängnis hat er überlebt; aber die Erfahrung der Barbarei lässt sich nur überleben, wenn man ihrer eingedenk bleibt. Überleben heißt weiterschreiben.

Liao Yiwu: „Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 432 Seiten, 24,99 Euro