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Wie Berlin den Körper entdeckte

Ohne die Tanzfabrik hätte die Hauptstadt heute vielleicht eine international bekannte Kunstszene weniger. Mit einer Stadtwanderung feierte das Pionierprojekt aus den 1970er Jahren jetzt sein 40-jähriges Bestehen

Von Astrid Kaminski

„War das nicht der Einkaufswagen von der Brache am Anhalter Bahnhof?“ Es ist ein Plakat, das diese Frage auslöst: Da sieht man eine Tänzerin, eine Fechtmaske vor dem Gesicht, in einem Einkaufswagen sitzen. Das Plakat hängt mit anderen Motiven aus der Geschichte der Tanzfabrik unter den Yorkbrücken. Die Leute, die sich am Samstag davor drängten, nahmen an einer Stadtwanderung aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums der Tanzfabrik teil, die von deren ersten Räumen in der Möckernstraße in Kreuzberg bis zu ihren Studios in den Uferhallen im Wedding führte.

Einige Leute bei dieser Stadtwanderung wissen sehr viel. Sie waren dabei, als vor 40 Jahren in Berlin eine neue Ära begann und der zeitgenössische Tanz in der Stadt wiedergeboren wurde. Es gab ihn schon einmal, Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber es hat gedauert, bis er nach seiner Emigration während des Nationalsozialismus und der abschließenden Abwicklung wieder Fuß fassen konnte.

Dieter Heitkamp, der auf den Plakaten zu sehen ist, war in den 1970er Jahren Sport- und Biologiestudent. Heute ist er Professor und Ausbildungsdirektor für Zeitgenössischen und Klassischen Tanz in Frankfurt/Main. Als er damals nach Berlin kam, prägten den Theaterbegriff des gebürtigen Ostwestfalen die bunten Abende des örtlichen Turnvereins. Unter Tanz verstand er Standardtänze, erzählt er, während die Gruppe sich dem Park am Gleisdreieck nähert. In Berlin probierte er dann aus, was sich finden ließ: Kurse in der Tradition der Ausdruckstänzerin Mary Wigman an der FU, im Medien- oder Schwulenzentrum erste Begegnungen mit Improvisation. Zusammen mit einer guten Hand voll Mitstreiter*innen beschloss er, dem Tanz einen Ort zu suchen. Durch viel Feldforschung wurde der schließlich in der Möckernstraße inmitten einer aktiven Hausbesetzerlandschaft gefunden.

Hier entstand 1978 die Tanzfabrik, der wichtigste Motor für das Entstehen der zeitgenössischen Berliner Tanzszene, als kollektives Lebens- und Kunstprojekt. Ein transparentes Arbeiten und Wohnen, in dem es nicht nur Fenster nach außen sondern auch nach innen, in die ohnehin nicht gerade üppigen Kojen der WG gab. Es war die Zeit, in der die Gemeinschafts­ideale der 68er entweder umgesetzt oder begraben wurden, unter anderem auch das Jahr ersten taz-Ausgabe. Es wurde gebaut, eine Großmutter (von der sehr jungen Tänzerin Antja Kennedy) spendete Geld für einen Parkettboden, beim Senat konnten erste Fördergelder akquiriert werden. Bald war eine Tanzkompanie gegründet worden, Unterricht wurde angeboten, mehrere Dutzend Klassen pro Woche.

Davon erzählt Gabriele Reuter, Stadtforscherin und Choreografin, von der die Tanz-Stadtwanderung konzipiert wurde in den Räumen in der Möckernstraße. Dass der Laden bis heute von morgens bis abends brummt, davon können sich die weniger mit der Szene Vertrauten ein Bild machen, als sie kurz die Türen von Studio 1 öffnet: Eine Bewegungsenergiewelle schlägt uns von den dort Trainierenden entgegen.

Die dreistündige Stadttour ist der Auftakt der diesjährigen Jubiläumsveranstaltungen zum 40-jährigen Bestehen der Tanzfabrik. Von der Möckernstraße geht es über den Gleisdreieckpark, der mit seinen verlassenen und unzugänglichen Bahnstrecken in den 80er Jahren die Idee zu einem Stück gab, zur Akademie der Künste im Hanseatenweg, von dort zum Theater HAU Hebbel am Ufer und zu den Weddinger Uferstudios, dem heute wichtigsten Areal der zeitgenössischen Szene, wo die Tanzfabrik inzwischen ihr zweites Standbein hat. Hier widmet sich die Tanzfabrik dem Produzieren von Stücken, Veranstaltungsserien und Festivals. Zu jeder der Stationen gibt es ein per Headset eingespieltes Stück Tanzgeschichte.

Eine wesentliche Rolle spielten Kontakte in die USA. Der letzte Wigman-Assistent Hellmut Gottschild hatte die Kompanie Motion aus Berlin nach Philadelphia mitgenommen. Von dort stießen wiederum Tänzer*innen zum Tanzfabrik-Team und brachten Techniken des US-amerikanischen postmodernen Tanzes mit. Umgekehrt sorgte der Senat für New-York-Stipendien der Fabrikler. So kamen Contact Improvisation – ein wesentliches Kompositionsmittel des zeitgenössischen Tanzes – aber auch Körperpraktiken wie Body-Mind-Centering oder die Release-Technik in die Stadt. Körperbewusstsein sei zu dieser Zeit, so erinnert sich Claudia Feest, die langjährige künstlerische Direktorin der Tanzfabrik, kein Begriff gewesen. Yoga-Studios? Sie winkt ab.

„Wir kannten nichts anderes als ausverkauft“

Kirsten Maars Erinnerungscollage

Der Hunger nach einem Ausweg aus der Verkopfung war daher groß, das Publikum zahlreich. „Wir kannten nichts anderes als ausverkauft“, heißt es in einer von der Tanzwissenschaftlerin Kirsten Maar zusammengestellten Erinnerungscollage. Das Publikum soll eher übereinander als nebeneinander gesessen haben, der Begriff „Fluchtweg“ war unbekannt. Die ebenfalls mitwandernde taz-Redakteurin Katrin Bettina Müller, die ab Mitte der 80er Jahre Kurse besuchte, erinnert sich daran, dass selbst das Magazin der Lufthansa Vorstellungen der Tanzfabrik empfahl. Der Kultursenat selbst warb mit dieser Gruppe für die Stadt.

Die Landschaft wuchs. Nele Hertling, die zeitgenössischen Tanz an die Akademie der Künste gebracht hatte, ging als Direktorin ans Hebbel Theater (heute HAU), 1988 wurde im Zuge des Kulturjahrs Europa das Festival Tanz im August gegründet, das in diesem Jahr als größtes deutsches Tanzfestival sein 30. Jubiläum feiert. Als die Tanzfabrik im Jahr 2000 die erste Tanznacht Berlin gründete, musste das Publikum, das keine Tickets mehr erwischte, mit Gratissekt ruhiggestellt werden.

Krisen gab es auch. Mitte der 90er Jahre löste sich das Wohnprojekt auf, gleichzeitig stellte der Senat, der im wiedervereinigten Berlin mit einem Doppelhaushalt agierte, die Hälfte der Förderungen ein. Eine Neukonfiguration stand an und sie gelang. Aus alten Qualitäten wurden neue. Aus dem Wohnprojekt wurde eine flexible Struktur, aus Kollektivdenken Netzwerkdenken, darunter die Beteiligung am Konzept für das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz (HZT) unter Eva Maria Hoerster. Eine eigene Kompanie hatte die Tanzfabrik dann nicht mehr, aber das machte der Unterstützung von Künstler*innen der jungen internationalen freien Szene und Hochschulabgänger*innen Platz. Ihr wichtigster Produzent ist heute die Tanzfabrik unter der Leitung von Ludger Orlok.

Und so geht die Wanderung auch unmittelbar in die jüngste Ausgabe der Veranstaltungsserie Open Spaces über, die zum Auftakt mit André Uerba und Lina Gómez zwei der aktuell vielversprechendsten HZT-Alumni präsentieren. Uerba entwirft eine kinetische Raumskulptur aus dünnen, vertikalen Fäden. Wie eine Holografie besteht sie aus perspektivisch ineinander verschalteten, geometrischen Körpern, die Schicht für Schicht, Faden für Faden abgebrannt werden. Hunderte glühwürmchenartige Flammen schwirren durch den Raum, mal wie Perlenketten, mal wie eine Sternenkarte, mal wie eine Schwarmchoreografie. Und auch wenn die richtige Feier zum 40-jährigen Jubiläum erst zur Tanznacht im August stattfindet, fällt es schwer, dabei nicht auch an die Lichter eines Geburtstagskuchens zu denken.

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