: Keine schicke Trendkrankheit
Das reale Leiden der Betroffenen: das immerhin zeigt die Doku „37 Grad: Keine Panik – Leben mit Angststörungen“ (ZDF, 22.15 Uhr)
Von Carolina Schwarz
Der Mund wird trocken, die Hände sind nass vom Schweiß und das Herz beginnt zu rasen. Übelkeit, Schwindel, Atemnot. Jeanette steht vor einem Erlebnisbad und winkt durch das Fenster ihrer Tochter zu, die im Handtuch gewickelt auf einer Liege sitzt. In dieser von außen betrachtet harmlosen Situation schnürt es Jeanette die Kehle zu, sie denkt, ihr Herz hört auf zu schlagen, und hat das Gefühl: Das war’s. Ich werde sterben.
Jeanette stirbt nicht, sie hat eine Panikattacke. Eigentlich wollte sie gerade mit ihrer Tochter im Erlebnisbad sein, doch die große Menschenmenge und das Gefühl, nicht fliehen zu können, machen es für sie unmöglich, mit ihrer Tochter zu entspannen. Die ZDF-Dokumentation aus der Reihe „37 Grad“ zeigt Erfahrungsberichte von drei Protagonist*innen: Jeanette, Petra und Nicholas. Alle drei leiden unter einer Angststörung. Sie können nicht mehr arbeiten und nur schwer das Haus verlassen, ein Besuch beim Frisör wird zur unüberwindbaren Hürde. Man sieht sie scheitern in Situationen, in denen sie ihre Angst überwinden wollen – Situationen, die für viele Menschen alltäglich sind.
Es ist vermutlich kein Zufall, dass in der Doku des Autors Broka Herrmann mehr Frauen von ihrer psychischen Erkrankung erzählen als Männer, denn Frauen erkranken zweimal häufiger als Männer an Angststörungen. Das sind Informationen, die in der Doku fehlen. Nur wenige Fakten, Behandlungsmöglichkeiten oder Einordnungen werden vorgestellt. Nur für wenige Sekunden kommt ein Experte, ein Psychotherapeut, zu Wort.
Nicholas Müller ist einer der Betroffenen, der von seiner Krankheit erzählt: „Man denkt, man stirbt. Und wenn man dreimal am Tag für eine Dreiviertelstunde lang denkt, man stirbt, dann macht das etwas mit einem.“ Müller war jahrelang Frontsänger der erfolgreichen Rockband Jupiter Jones, hat goldene Schallplatten und den Echo-Preis gewonnen. Ein Fall, der zeigt, dass die Krankheit Menschen unabhängig vom Bildungsstand, Alter oder sozialem Status trifft.
Die Protagonist*innen reden in die Kamera, während die Angst in ihnen aufsteigt. Die Zuschauer*innen sehen es nicht, sie hören es nur. Und genau, das ist es, was die Angststörung ausmacht: Sie ist nicht sichtbar. Doch kann man als Außenstehende*r helfen? Gibt es einen Auslöser für die Krankheit? Wer tiefgehende Informationen über die psychische Erkrankung haben möchte, sollte auf andere Dokumentationen oder wissenschaftliche Artikel zurückgreifen. Doch die ZDF-Doku gibt Nichtbetroffenen mit den Erfahrungsberichten der Erkrankten und den Gesprächen der Angehörigen zumindest eine Vorstellung davon, wie sich Angststörungen anfühlen.
Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass Angststörung eine Trendkrankheit sei. Häufig hört man: In der Großstadt gehöre es ja schon zum guten Ton, unter der psychischen Erkrankung zu leiden. Tatsächlich sind Angststörungen die häufigsten psychischen Erkrankungen, noch vor Depressionen und Alkoholismus. Jede*r Achte in Deutschland leidet unter ihnen. Unklar ist, ob die Zahl der Betroffenen steigt oder die Diagnosen präziser werden.
Mit jedem Buch oder Text über Angststörungen wird der Mythos weiter gefüttert. Und jetzt auch noch eine ZDF-Doku. Doch durch das Zunehmen der medialen Berichterstattung wird auch die Tabuisierung des Themas verringert. Und wer Petra bei ihrem Versuch, zur Apotheke zu gehen, sieht oder Nicholas erzählen hört, wie häufig er die 110 gewählt hat – der wird vermutlich aufhören, Angststörungen als trendy zu bezeichnen und sie künftig als das ansehen, was sie sind. Nämlich als Krankheit.
Gut so. Denn ist das Leben mit ihr nicht schon kräftezehrend genug, sollten die Betroffenen nicht auch noch unter dem gesellschaftlichen Stigma leiden müssen.
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