: Rabiat, abstrus und abwärts
Auch Hitler war Christ? Der französische Philosoph Michel Onfray prophezeit den Niedergang der abendländischen Kultur und packt in seiner Religionskritik die Peitsche aus
Von Rudolf Walther
Es gibt Sachbücher, die sich schon durch ihren formalen Aufbau in einen Widerspruch zu ihrem Inhalt versetzen. Michel Onfray beschäftigt sich in seinem Buch auf 700 Seiten mit dem „Niedergang“. „Der Himmel ist schwarz“, lautet der erste Satz, „das Nichts ist uns stets gewiss“, der letzte.
Den ebenso großen wie sperrigen Stoff dazwischen präsentiert der Autor jedoch mit arithmetischer Akribie streng symmetrisch geordnet: Die sechs Kapitel umfassen je fünf Abschnitte. Er erweckt damit vorab den Eindruck, der Weg vom „schwarzen Himmel“ ins „Nichts“ führe auf schnurgeraden Treppen mit je fünf Stufen abwärts.
Allein die für den Niedergang im Untertitel ins Auge gefasste Chronologie – „von Jesus bis Bin Laden“ – spricht mit ihren Brüchen, Windungen, Kurven und Sackgassen nicht gerade dafür, dass sich die rund 2.000 Jahre über „Anfang und Ende des Judäo-Christentums“, wie die wörtliche Übersetzung des Untertitels der französischen Originalausgabe lauten müsste, more arithmetico so einfach begradigen ließen.
Die deutsche Übersetzung schafft zusätzliche Konfusion, indem sie aus dem Anfang und Ende des „Judäo-Christentums“ den „Aufstieg und Fall der abendländische Kultur“ destilliert, so als ob die Kultur des Abendlandes identisch wäre mit der jüdisch-christlichen. Das meinen nur noch Pegida-Leute und ihre ganz nahen Verwandten in der Christenunion. Freilich passt dieser sprachliche Grobianismus des Verlags zum intellektuellen Habitus des Autors, der am liebsten mit dem Zweihänder agiert beim Verhackstücken der Religionen im Namen eines ominösen „neuen historischen und dialektischen Materialismus“ und eines militant-reflexionsfreien Vitalismus, der ohne Rücksicht auf Kosten und Nebenfolgen „bekämpft, was ihn bedroht“.
Michel Onfray: „Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden“. Albrecht Knaus, München 2018, 704 Seiten, 28 Euro
Onfray tritt als rabiater Religionskritiker auf – insbesondere des Christentums und des Islam. Auf diesem Feld hat sich schon mancher blamiert, der kurzen Prozess machen wollte mit der Religion überhaupt. Konstantin der Große machte im 4. Jahrhundert aus der christlichen Sekte eine Welt- und Staatsreligion, sicherte sich dadurch „seine Macht als Alleinherrscher“ und „verbrachte sein ganzes Leben damit, zu töten und Tötungsbefehle zu erteilen“, bevor er sich selbst auf dem Sterbebett im Mai 337 taufen ließ. Das war das Gründungsritual der „jüdisch-christlichen Zivilisation“, zu der Onfray auch den Nationalsozialismus zählt, denn auch „Hitler war Christ, Deist und Fideist“.
Der Autor schreckt selbst vor abstrus-geschmacklosen Analogieschlüssen nicht zurück. So wie Jesus die jüdischen Händler mit der „Peitsche“ aus dem Tempel verjagt habe, so habe der Christ Hitler die Juden behandelt wissen sollen: „Aus der Peitsche Christi wurde die Gaskammer“. Auch den von Hitler entfachten Krieg bagatellisiert Onfray zur „Modalität der Peitsche“. Außer mit ausgiebigem Namedropping dekoriert Onfray seine Thesen gern mit umfangreichen Gräuelgeschichten auf durchwegs problematischer Quellenlage.
Wie alle fundamentalen Vereinfacher liebt Onfray kurze Hauptsätze sowie handliche Zurüstungen und Reduktionen: „Der Untergang [ist] das Gesetz alles Seienden“, woraus folgt, dass der Niedergang als „eine Zwangsläufigkeit“ erscheint. „Für mich als Empiriker gibt es nichts anderes als eine materialistische Ontologie.“ Der Hang zum Apodiktischen bringt Onfray oft in die Nähe von Kalauern in der Preislage von: Rom ist untergegangen, und ich habe auch schon Zahnweh. Onfray wörtlich: „Der eine lebt kurz und intensiv, der andere lange, aber eintönig. […] So auch die Kulturen.“
Für Onfray verläuft Geschichte seit „zweitausend Jahren“ in einem Zeitkanal, an dessen Anfang Jesu Jünger Paulus („frauenfeindlich, phallokratisch, sexistisch, homophob“) steht und der mit der Vernichtung der Juden endet. „Theologen, Philosophen und Soldaten“ marschieren bei Onfray vereint und immer in dieselbe Richtung. Bischof Eusebius von Caesarea lobte um 330 herum in seiner Kirchengeschichte Konstantin den Großen, der das Christentum zur Staatsreligion machte, und „Robespierre, Lenin, Mao und Sartre“ pflegten später denselben „schmeichlerischen“ Umgang mit den Mächtigen. Sie pflegten alle dasselbe „abgekartete Spiel“ wie die mittelalterlichen Theologen mit der „Vernebelungsmaschinerie“ unter dem Namen „Scholastik“.
Onfrays Rasenmäher macht buchstäblich alles mit allem gleich – die Inquisition mit der Glaubenskongregation, die Weltkriege im 20. Jahrhundert mit der Strafaktion der französischen Revolutionsarmee gegen aufständische Bauern in der Vendée und diesen Rachefeldzug mit Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“, den Onfray zur „Blaupause für ein System“ erklärt, „das später Totalitarismus heißen sollte“.
In der Perspektive einer angeblich durchgehenden Logik von Konstantin dem Großen bis zu Mussolini und Hitler erscheint „Faschismus in seiner Reinform“ als „Bolschewismus minus Ent-christianisierung plus Re-christianisierung“. Auf Seite 481 seines abstrusen Machwerks gibt Onfray das Geheimnis seines arithmetisch fundierten Geschichtsverständnisses preis. Es beruht auf der Ent- und Wiederbeladung von Begriffen, die durch diese Operation fast beliebig einsetzbar werden und „jede Deutung wie auch deren Gegenteil“ erlauben.
Was Onfray über die EU, den „Kampf der Kulturen“, den Mai 1968, die moderne Kunst, den Kommunismus, den Bildungsnotstand, den Strukturalismus, den Journalismus, die Sexualität absondert, übersteigt nur selten das intellektuelle Niveau von Bierzeltrhetorik, kulturpessimistischer Panikmache oder neu-rechtem Gedöns und Gedünst. Der ehedem kritische Intellektuelle Onfray hat sich hinter Maurice G. Dantec („Les racines du mal“), Éric Zemour („Le suicide français“) in die Reihe wurstig-reaktionärer Pamphletisten eingereiht.
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