: Gegenwart, die immer neu beginnt
Das Prinzip der Improvisation – ein Konzert mit philosophischer Begleitung im Exploratorium
Von Thomas Mauch
Es ist halt alles relativ. Dass zum Beispiel an diesem hochsommerlichen Donnerstagabend nicht annähernd so viele Besucher ins Exploratorium kommen würden wie zeitgleich zu dem Konzert von Pearl Jam in der Waldbühne, das konnte wenig überraschen. Weil eben die im Exploratorium gepflegte Musik, die freie Improvisation, gegenüber einem gepflegt krachenden Rock ein absolutes Minderheitenprogramm ist.
So sammelten sich in der Waldbühne beim ausverkauften und, wie seriöse Quellen bestätigten, großartigen Pearl-Jam-Konzert über 20.000 Besucher, beim Konzert in Kreuzberg zählte man etwa 20 samt den Musikern und dem einen Philosophen.
Letzterer aber war es ja, der neugierig machte auf diese Veranstaltung. Ein Versuch, Philosophie und Musik zusammenzubringen. Konkret war das so, dass in einem steten Wechsel der italienische Philosoph Alessandro Bertinetto für die Theorie sorgte, er machte das übrigens auf Deutsch, während die beiden Musiker Reinhard Gagel und Mirio Cosottini die Improvisation in der Praxis demonstrierten.
Improvisation: also die je im Moment entstehende Musik, die nicht vorab schriftlich notiert ist. Was aber keineswegs eine Tabula-rasa-Situation sei, wie Bertinetto, der sich schwerpunktmäßig mit der Ästhetik der Improvisation beschäftigt, erklärte. Improvisation sei immer auch ein Rückgriff, auf Erlerntes und Erfahrenes. Was dann, im Körper abgespeichert, durchaus unbewusst abrufbar ist. Improvisation findet in einem kulturellen Kontext statt. Ein Setting, das die Improvisation aber ständig transformiert. „Improvisation ist Anfangen, kontinuierliches Anfangen“, so Bertinetto. „Sie ist eine Gegenwart, die immer neu beginnt.“ Um aber wirklich kreativ zu werden, muss sich ein Improvisator sozusagen selbst überlisten und die erworbenen Routinen durchbrechen. Er muss Herausforderungen suchen, auf die er tatsächlich improvisatorisch reagieren kann.
Wie sich dann diese Erläuterungen zu der gespielten Praxis verhielten, mussten die Zuhörenden allerdings doch für sich selbst klären, weil da natürlich nicht die theoretischen Einlassungen im Anschluss gleich musikalisch ausgemalt wurden. Wobei Gagel, er spielte Klavier, Minimoog und Akkordeon, und der Trompeter Cosottini in streng auf je fünf Minuten eingegrenzten Einheiten geradezu modellhaft verschiedene Herangehensweisen an die nicht vom Jazz her gedachte freie Improvisation durcharbeiteten. Vorsichtig und tastend zuerst wurden die Töne ausprobiert, man steckte die Positionen ab, spielte mit den klanglichen Möglichkeiten der Instrumente, und manchmal spielte man dagegen an.
Gut zu hörende, klar strukturierte und sich letztlich wieder gleich im Moment selbst erklärende Instantkompositionen waren das, auf dem doch relativ offenen Spielfeld der freien Improvisation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen