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Annabelle Hirsch Air de ParisEine Epoche ist besiegelt, eine neue beginnt

Wenn es stimmt, was der Spiegel vor Kurzem behauptete, nämlich, dass der Fußball ein Seismograf für die Lage eines Landes ist, dann geht es Frankreich gerade sehr gut: Heute Nachmittag wird Emmanuel Macron gemeinsam mit seiner Frau Brigitte und einer kleinen Gruppe Auserwählter in seine Präsidenten-Maschine steigen, um dem Halbfinale seiner „Bleus“ am Abend in Sankt Petersburg beizuwohnen. Die haben sich relativ unverhofft zu einem Favoriten der Weltmeisterschaft entwickelt. Und man kommt tatsächlich, wenn man erst einmal anfängt, die Sache so zu betrachten, kaum drumherum, zu denken, dieses Männer-laufen-um-einen-Ball-herum-Spiel spiegle die derzeitige Lage ganz gut wider: Frankreich bewegt sich nach einer Durststrecke, die dem Weg in die Bedeutungslosigkeit gefährlich ähnlich sah, mit neuem Elan nach vorn. Es wirkt nicht mehr so schwer und behäbig, wie es das vor Kurzem noch tat.

Und vielleicht, das ist nur eine Mutmaßung, aber es wäre zumindest möglich, hängt diese neu gewonnene Dynamik auch damit zusammen, dass gerade viele Säulen des 20. Jahrhunderts wegbrechen. Dass viele Erfolge, auf denen man sich in Frankreich so lange hatte ausruhen können, weil man die großer Frauen und Männer, die sie erzielten, so sehr bewunderte und sie immer so kerzengerade und ungebrochen dastanden, als würden sie niemals umfallen, es leider doch tun. Und damit verlangen sie von ihren Nachkommen, dass jetzt mal diese die Verantwortung übernehmen. Im letzten Jahr waren es einige. Einige für das französische Selbstverständnis sehr wichtige: Jeanne Moreau, Johnny Hallyday, Pierre Bergé, Jean d’Ormesson. Natürlich auch Simone Veil und, am vergangenen Donnerstag, Claude Lanzmann. Von den beiden Letztgenannten spricht man gerade am meisten. Natürlich aktualitätsbedingt, aber auch, weil sie – das klingt immer so pathetisch, ist aber wahr – so etwas wie das Gedächtnis des vergangenen Jahrhunderts waren. Oder vielmehr, weil sie unsere Art und Weise, dieses Jahrhundert zu betrachten und zu denken, so maßgeblich geprägt haben.

Lanzmann, der Regisseur, der Schriftsteller, der ewig Mahnende, dem man manchmal vorwarf, er denke, er habe ein Monopol auf das Thema der „Shoah“, was er sicher teilweise dachte, nur irgendwie auch denken durfte, da er dem Thema ja nicht weniger als sein Leben gewidmet hatte, indem er immer und immer wieder auf das Verbrechen des Holocaust (er hasste das Wort) zurückkam. Indem er aus den über dreihundert Stunden Filmmaterial von „Shoah“ immer neue Aspekte der Geschichte herausarbeitete, neue Details beleuchtete, um dem gedanklich nie wirklich Greifbaren schärfere Konturen zu geben. So wie erst kürzlich in „Vier Schwestern“, einer Reihe von vier Filmen, in denen er in vier Interviews dem Schicksal von Frauen in den Lagern und Ghettos eine Stimme gab, der von Ada Lichtman, Hanna Morton, Paula Biren und Ruth Elias.

Veil, weil sie eine dieser Frauen gewesen war. Weil sie überlebt hatte und ihr Überleben mit so viel Sinn gefüllt hatte, dass am 1. Juli, als sie, ein Jahr nach ihrem Tod, als fünfte Frau in der Geschichte Frankreichs in den Pantheon einzog, Hunderte von Menschen fast zwei Stunden lang unter der brennenden Sonne der Rue Soufflot standen und klatschten und klatschten und klatschten. Für diesen „grand homme de la patrie“, der eine „femme“ war. Sie riefen „Merci Simone!“, weil mit ihr nicht nur, wie Emmanuel Macron das sagte, auch das Gedächtnis der Opfer des Holocausts in den Pantheon einzog, sondern auch das eines von ihr trotz allen Widerstands gewonnenen Kampfes: natürlich dem für die Frauen und ihre Rechte, aber vor allem auch dem für Europa, für Versöhnung und ein bewussteres „Danach“.

Dass Claude Lanzmann nur vier Tage nach Simone Veils „Pantheonisierung“ verstorben ist, erweckt tatsächlich den Eindruck, als würde in diesem viel zu warmen Pariser Sommer eine Epoche besiegelt werden. Und damit eine neue, hoffentlich eine von ebenso viel Mut, Humanismus und Scharfsinn erfüllte, beginnen.

Annabelle Hirsch ist freie Autorin in Paris.

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