zwischen den rillen: Unterkühltes Wummern, sperrige Gesteinsbrocken und lecker Knochenmark
Man hört ein Tuckern, ein Klackern. Dann einen Synthie-Loop, der von weit weg, aus dem Untergrund, dem Unterbewusstsein oder gar einem anderen Universum zu kommen scheint. Lucrecia Dalt sitzt, ganz in Schwarz gekleidet, regungslos hinter ihrem Pult, auf dem ein modularer Synthesizer, Effektgeräte und ein Mischpult aufgebaut sind. Mechanisch spricht sie in ein Mikrofon: „We had touched / as only atmospheres touch“, wiederholt mantraartig diesen Satz. Ein Beat pocht dazu, ein reduzierter Industrial-Sound klingt an.
Die kolumbianische Künstlerin Lucrecia Dalt stellte kürzlich in einem kleinen Club in Berlin ihr neues Album „Anticlines“ vor; das Stück, das sie spielte, hieß „Tar“ (Teer) und ist eine der herausragenden Kompositionen des Werks. Das Klangbild des gesamten Albums deutete sich da an: Unterkühltes elektronisches Wummern und Wabern trifft auf eine oft steril klingende, im Spoken-Word-Duktus vortragende Stimme, die mit pointierten Versen das posthumanistische Zeitalter seziert.
„Anticlines“ ist das sechste Album der 38-Jährigen, die in Pereira am Fuße der Anden aufgewachsen ist, zwischenzeitlich in Barcelona lebte und nun seit einigen Jahren in Berlin zu Hause ist. Die 14 Tracks sind der vorläufige Höhepunkt eines langen musikalischen Wegs, auf den Dalt bereits zurückblickt: Auf ihren ersten Alben „Acerca“ (2005) und „Congost“ (2009) waren noch sphärische Indietronica-Stücke zu hören, seither wurde ihre Musik immer abstrakter und experimenteller.
Nun stehen Synthesizer und Stimme, zum Teil durch einen Prozessor gejagt, vollends im Vordergrund, dazu kommt ein streng konzeptueller Ansatz. Denn dieses Unnahbare, fast Gefühlskalte, das man schon in der Live-Performance sehen und hören konnte, passt zu den Inhalten, die Dalt verhandelt. Gleich im Auftaktsong („Edge“) verarbeitet sie den unheimlich anmutenden kolumbianischen Mythos des Monsters El Boraro, das sich vom Knochenmark der Menschen ernährt, diese aussaugt und dann zu Ballons aufbläst. „I am gathering up skins / I am gathering up skins and blowing them up like balloons“, lautet die erste Zeile des Albums.
In einem weiteren Song, „Glass Brain“, befasst sich Dalt mit der abgedrehten Theorie des „Boltzmann-Brains“ – der österreichische Philosoph und Physiker Ludwig Boltzmann (1844–1906) fragte sich, ob es nicht sein könnte, dass die Welt, die wir wahrnehmen, nur die Einbildung eines aus dem Vakuum entsprungenen Gehirns sei. „We’d be a glass brain / and everything around us is an illusion“, hört man Dalts verzerrte Stimme murmeln, während plätschernde Beats langsam in einen geisterhaften Bläser-Sound münden. Und dann spielt inhaltlich auch das berufliche Vorleben der Musikerin eine Rolle: Sie ist studierte Geophysikerin, und Anticlines (Antiklinalen) sind Gesteinsaufwölbungen. Die Metaphern auf dem Album stammen oft aus diesem Bereich – ein weiteres Stück („Analogue Mountains“) handelt etwa vom Meteoriten ALH 84001, der 1984 in der Antarktis gefunden wurde.
Dieses Album ist ebenfalls ein Brocken – ein sperriges, kompliziertes Stück Musik, das aber dank der Stimme Dalts auch ein bisschen düstere Erotik ausstrahlt. Laurie Anderson dürfte ein Einfluss gewesen sein; Dalt selbst nennt unter anderem die Industrial-Pioniere Throbbing Gristle, den Synthiefrickler Felix Kubin sowie Robert Ashley und dessen Stimm- und Soundexperimente als Inspiration.
Dalt holt dumpfe Subbässe genauso wie sphärisches Geblubber aus den Synthesizern, sie kann mit Frequenzengeflimmer Spannung evozieren, und sie macht einen auch empfänglich dafür, wie viele verschiedene Facetten des Rauschens es gibt. Mit „Anticlines“ hat Lucrecia Dalt einen Sound kreiert, der so wirklich einzigartig ist.
Jens Uthoff
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