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Sein Glück erschaffen

In seinem Roman „Drei Sekunden Jetzt“ umschreibt Hans Platzgumer die Geworfenheit eines Findelkinds in die Welt

Hans Platzgumer Foto: S. Bellet

Von Carsten Otte

François ist ein Findelkind. Er liegt in einem Einkaufswagen, als sich sein Leben zum ersten Mal grundlegend verändert. Die Mutter hat ihn in Bonne­veine, einem Vorort der französischen Hafenmetropole Marseille, durch einen Supermarkt geschoben und zwischen den Regalen zurückgelassen. Die Fürsorge funktioniert immerhin, und so landet das ausgesetzte Kind schon bald bei den spießbürgerlichen Toulons, die den Kleinen adoptieren. Solche „Geworfenheit in die Welt“ gehört zu den Grundthemen der Existenzphilosophie, die den österreichischen Schriftsteller Hans Platzgumer faszinieren.

Zuletzt beschrieb Platzgumer in seinem Roman „Am Rand“, der 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand, eine menschliche Ex­tremsituation, in der folgenreiche Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden (müssen). Von solchen existenzverändernden Wegmarken erzählt auch sein neuer Roman, „Drei Sekunden Jetzt“, und als würde der Text nicht schon genug Hinweise auf die Thematik geben, ist dem Buch auch ein Zitat von Sartre vorangestellt: „Der Mensch muss sich sein eigenes Wesen schaffen. Indem er sich in die Welt wirft, in ihr leidet, in ihr kämpft, definiert er sich allmählich.“

„Einer wie ich erhält ständig eine zweite Chance“, heißt es zu Beginn des Romans, und so wissen wir mit dem ersten Satz, dass die Welt diesem Ich-Erzähler kaum etwas anhaben kann, mögen die Gefahren und Krisen noch so groß sein. Statt eine erzählerische Spannung aufzubauen, die Figur mit psychischen Untiefen auszustatten und ihr echte Fallhöhe zuzumuten, setzt Platzgumer auf das Beschreiben und Reflektieren von grotesken Szenen.

Das gelingt ihm durchaus, wenn der philosophische Überbau nicht zu dominant und die Konstruktion nicht zu unwahrscheinlich sind, etwa in dem Moment, als François, kaum ist er dem Elternhaus entronnen, mit der aus Westafrika stammenden Lucy zusammenkommt und von dem selbstbewussten Mädchen in einer vermeintlich einsamen Bucht verführt wird. Als die beiden nämlich beim Sex beobachtet werden, schlägt die wortgewaltige Lucy den Störenfried mit wahnwitzigen Flüchen in die Flucht, und hier spürt man den Romancier, der nicht nur räsonieren, sondern tatsächlich erzählen will.

Doch leider sind solche Szenen die Ausnahme in einem Text, dessen Dramaturgie sich wahlweise in unglaubwürdige oder zumindest nicht sehr elegant hergeleitete Wendepunkte und dann wieder im Aufzählen von Belanglosigkeiten erschöpft. Der Held macht dies und das. Übrig bleibt von der mageren Story: François schlägt sich als Portier in einem einfachen Hotel am Marseiller Hafen durch und übernimmt für den dubiosen Besitzer kriminelle Geldtransporte in die Schweiz. Irgendwann erschießt sich ein einsamer Hotelgast in einem Zimmer mit Blick aufs Mittelmeer, François taucht in New York unter, verliebt sich, fliegt nach Montréal und landet wieder in Frankreich, um als zufriedener Normalangestellter ein irgendwie glückliches Leben zu führen.

Hans Platz­gumer: „Drei Sekunden Jetzt“. Zsolnay Verlag, Wien 2018, 256 Seiten, 22 Euro

Zwischendurch aber ­passiert einfach mal gar nichts: „Die Jahre kamen und gingen. Hin und wieder erinnerte ich mich an meine Adoptivmutter, selten aber dachte ich an dieses Leben, in dem ich sie zurückgelassen hatte.“ So überträgt sich die Langeweile des Erzählers auch auf den Leser, zumal die Sprache des Ich-Erzählers auf groteske Weise ungelenk ist: „Ich höre ihr zu, und es gefällt mir, wir ihre Sprache durch die Silben schlurft.“ Der Roman ist durchsetzt von Stilblüten und hölzern formulierten Sätzen, wobei nicht ganz klar wird, ob es sich um eine gewollte Form-Inhalt-Kongruenz handelt, weil der Ich-Erzähler in seinem umständlichen Duktus gefangen ist, oder ob es sich um einen Mangel der literarischen Mittel seines Erfinders handelt.

Ziel des Romans ist jedenfalls weder eine feinsinnige Figurenentwicklung noch das kunstvolle Erfinden einer überraschenden und gleichsam plausiblen Geschichte, sondern eher die Reflexion über ein vorübergehend als trostlos empfundenes Dasein. In François’ Worten: „Das Denken war ohnehin die Hauptbeschäftigung, der ich in diesen Tagen nachging, ich dachte und dachte, dachte mich hinaus und fort aus meiner Umgebung, ein Fluchtszenario hier, ein anderes da.“ Manchmal verwandelt sich die Denkprosa auch in eine blasse Kopie der bekannten Sartre-Sätze: „Ein Mensch erschafft sein Glück, indem er sich selbst erschafft, sich wieder und wieder neu erfindet und neu sich findet.“

Wenn solche Populärphrasen als Erklärung des Erzählten her­angezogen werden, zeigt sich sehr deutlich, dass dem Autor eine eigene literarischen Vision fehlt. Platzgumers Roman schließt jedenfalls mit einer Sentenz, die auch vom Satzbau her dem Französischen entlehnt zu sein scheint: „Das Leben, es ist nicht allzu schlecht.“ Für diese weder besonders originelle noch ­verallgemeinerungsfähige Erkenntnis braucht man allerdings keinen Roman zu lesen.

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