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Die Wahrheit ist nicht irgendwo da draußen

In ihrem brillant geschriebenen Langessay „Die Illusion der Gewissheit“ plädiert Siri Hustvedt für ein ganzheitliches Menschenbild und unterzieht die utopistischen Versprechen der künstlichen Intelligenz sowie den biologischen Determinismus der Evolutionspsychologie einer strengen Revision

Siri Hustvedt, erfolgreiche US-Bestsellerautorin, ist skeptische Beobachterin Foto: Jeff Pachoud/afp

Von Katharina Granzin

Siri Hustvedt verkörpert einen Typus der Intellektuellen, der heutzutage eigentlich fast ausgestorben ist. Ursprünglich Dichterin, Romanautorin und promovierte Literaturwissenschaftlerin, hat die 63-Jährige sich zu einer Art Universalgelehrten entwickelt. Romane schreibt Hustvedt weiterhin, doch ebenso viel Zeit widmet sie dem Schreiben über wissenschaftliche und philosophische Themen.

Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Fragen der Neurowissenschaften und verwandten Gebieten. Hust­vedts neuestes Buch, „Die Illusion der Gewissheit“, eine Auskoppelung aus einer umfangreichen Trilogie, belegt eindrucksvoll nicht nur ihre umfangreiche Lektüre, sondern vor allem auch ihren fragenden, suchenden, kritischen Geist.

Mit der „Illusion der Gewissheit“, gegen die Hustvedt in diesem Essay anschreibt, ist in erster Linie das eigentümliche Selbstbewusstsein mancher Protagonisten auf dem Feld der künstlichen Intelligenz gemeint, die trotz jahrzehntelanger erfolgloser Forschung mit unverbrüchlich frischem Optimismus verkünden, die Schaffung eines künstlich erzeugten, menschenähnlichen Bewusstseins sei nun endlich, aber wirklich nahe. Das zu behaupten und zu glauben, setzt voraus, eine strikte Trennung von Geist und Körper anzunehmen (was lange Tradition im abendländischen Denken hat): eine Prämisse, die Hustvedt entschieden ablehnt.

Das zweite wissenschaftliche Lager, mit dem Hustvedt sich sehr kritisch auseinandersetzt, ist das der Evolutionspsychologen, hier vor allem vertreten durch den flott schreibenden, publicitybegabten Steven Pinker, der zuerst vor über zwanzig Jahren mit „Der Sprachinstinkt“ als Vertreter der Noam-Chomsky-Schule von sich reden gemacht hat. Pinker bezieht in der „Nature vs. Nurture“-Debatte, also der Frage, ob Erbanlagen oder Erziehung und Kultur ausschlaggebend das Wesen des Menschen prägen, klar Position auf der Nature-Seite.

Noch eindeutiger tun dies die sogenannten Neodarwinisten im Gefolge von Richard Dawkins (berühmt-berüchtigt geworden mit seinem Buch „Das egoistische Gen“, 1976). Wozu Hustvedt, Darwin in Schutz nehmend, erklärt: „Der Darwin, den ich gelesen habe und immer wieder lese, ist aber kein Neodarwinist.“ Nach Dawkins, der sehr polemisch formuliere, sei der Mensch kaum mehr als ein von Trieben und „Genen“ (obwohl heutzutage längst nicht mehr so klar definiert werden kann, was ein Gen überhaupt ist) gesteuerter Roboter aus Fleisch.

Siri Hust­vedt: „Die Illusion der Gewissheit“. Rowohlt Verlag, Berlin 2018, 416 Seiten, 24 Euro

Hustvedts Anliegen ist es, zum einen den „Geist“ des Menschen als eines körperlichen Wesens eben aus dessen Körperlichkeit, seinen Wahrnehmungen und Empfindungen heraus zu verstehen. Das denkende Hirn könne nicht so einfach vom fühlenden Selbst getrennt werden. Zum anderen geht es ihr darum zu zeigen, dass diese Wahrnehmungen und Empfindungen – beziehungsweise, allgemeiner gefasst, die Interaktionen des Menschen mit anderen Lebewesen, Dingen, Gedanken – den Menschen in seiner Individualität erst formen. Es ist eine sehr ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen und sein Bewusstsein, die sie entwirft, allerdings vornehmlich in kritischer Abgrenzung oder Würdigung von anderen Autoren.

Nichts ist trivial

Hustvedt ist weder Philosophin noch Vertreterin eines bestimmten Fachgebiets, sie hat es nicht nötig, Eindruck mit der Errichtung eines großen Gedankengebäudes zu machen. Sie spielt die Rolle einer skeptischen Beobachterin. Doch gleichsam nebenbei entsteht so etwas wie ein gedankliches Gerüst, zu dem sie immer wieder zurückkehrt. Nicht von ungefähr beginnt das Buch mit einem Kapitel über die Plazenta. Das Säugetier, das der Mensch ist, wird immer wieder thematisiert, die Frage aufgeworfen, wie sein biologisches Tiersein, wie die Entstehung seines Körpers in einem anderen Körper im menschlichen Bewusstsein nachwirken mag. Mancherlei spekulative Gedanken sind darunter, kaum zu beantwortende Fragen, doch sie zu stellen, weist weit über die bloße Textexegese der zahllosen Bücher und Fachartikel hinaus, die Hustvedt im Laufe der Jahre gelesen hat und hier einer kritischen Inventur unterzieht. Biologische Fachliteratur ist übrigens kaum vertreten, medizinische aber durchaus.

Einen Autor gibt es, der Hustvedt besonders am Herzen liegt und den sie als Kronzeugen gegen das dualistische Menschenbild von Descartes, Hobbes und deren Erben anführt: „der Gelehrte Giambattista Vico (1668–1744), Historiker und Professor an der Universität von Neapel, der Rhetorik, Kultur und Geschichte durch die Kraft sprachlicher Bilder und der Erinnerung energisch verteidigte, die, so seine Überzeugung, in unseren körperlich-sinnlichen Erfahrungen wurzeln“.

Hustvedts Anliegen ist es, den „Geist“ des Menschen aus dessen Körper-lichkeit heraus zu verstehen

Dass Hustvedt mit diesem Essay gleichsam als geistige Erbin von Vico Position in seinem Sinne gegen die heutigen Apologeten der Trennung von Geist und Körper argumentiert, zeigt letztlich auch – und man kann das ein klein wenig frustrierend finden –, dass wir uns, bei allem technischen Fortschritt, doch seit Hunderten von Jahren in sehr ähnlichen Gedankenbahnen bewegen, was die grundsätzlichsten aller Fragen über das Menschsein betrifft.

Eine Fülle von Anregungen steckt in diesem Buch: zum Weiterlesen, zum Weiterdenken und dazu, nichts von allem, was uns widerfährt, für zu trivial zu halten, als dass es der Reflexion wert wäre. Unter anderem ist Siri Hustvedt eine Meisterin der geistreichen Nebenbeibetrachtung, der illustrierenden Anekdote. Ob sie ein Gespräch wiedergibt, das sie am Rande einer Konferenz führte, oder erzählt, wie sie ihren Hund beim Träumen beobachtete, oder eine Kindheitserinnerung hervorkramt – das alltägliche, persönliche Erleben, Wahrnehmen, Fühlen wird, mit leichter Hand erzählt, eingebettet in den größeren gedanklichen Kontext.

In dieser Art des Schreibens spiegelt die Autorin in subtiler Weise auch die Grundzüge ihrer These: Das Empfinden ist nicht zu trennen vom Denken, die konkrete sinnliche Wahrnehmung nicht vom abstrakten Konzept derselben. Und weil bei Hustvedt das Schreiben so ganz im Denken aufzugehen scheint – und umgekehrt –, fällt es leicht, ihr dabei zu folgen. Die Wahrheit, so empfindet man bei der Lektüre, liegt nicht irgendwo da draußen, sondern genau hier: in der Klarheit und Offenheit dieser Argumentation und der schlichten Schönheit dieser Sprache.

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