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Der Gipfel des Mülls

Ein Giftberg wird zum Ausflugsziel: Auf der ehemaligen Deponie in Hamburg-Georgswerder wird mittlerweile sauberer Strom produziert. Das unten im Boden noch giftiger Müll schlummert, gerät jedoch bei der schönsten Aussicht nicht in Vergessenheit

Von Juliane Preiß

Schön hier – wie sich am Horizont alle Wahrzeichen Hamburgs zum Postkartenpanorama zusammenfügen. Die Köhlbrandbrücke, die Elbphilharmonie, der Fernsehturm; Hafenkräne wechseln sich mit sattgrünen Baumwipfeln ab. Diese Aussicht „genießt“ man auf sieben Millionen Kubikmeter Müll stehend. 200.000 Tonnen davon hochgiftig. Aufgetürmt zu einem 40 Meter hohen Berg am nordöstlichen Zipfel der Elbinsel Wilhelmsburg.

Bevor dieser zum Energieberg Georgswerder wurde, trug er viele Namen, „Giftberg“, „gefährlichster Berg der Welt, „Monte Mortale“ – Berg des Todes, nannten ihn Anwohner in den 80er-Jahren. Ende 1983 kam ans Licht, dass das ölhaltige Sickerwasser, das aus dem Berg drang, hochgiftiges Dioxin enthält. Und plötzlich hatte Hamburg seinen bis dahin größten Umweltskandal am Hals. Woher das Dioxin genau kam, weiß man bis heute nicht. Zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse befassten sich damit, strafrechtlich belangt wurde niemand.

Nach mir die Sintflut

Das Problem war der laxe Umgang mit dem Sondermüll, der in den Jahren 1967 bis 74 offiziell in Georgswerder entsorgt werden durfte. Als „Chemiemüll“ deklarierte Fässer mit meist flüssigen Inhalten aus der ansässigen Schwerindustrie wurden in große, ausgebaggerte Becken innerhalb der Deponie gekippt und anschließend mit Hausmüll wieder aufgefüllt. Nach damaligem Kenntnisstand ging man davon aus, dass der Hausmüll die Giftstoffe quasi aufsauge – eine Nach-mir-die-Sintflut-Methode.

Nach dem Dioxin-Skandal wurden die Pläne, auf der seit 1979 stillgelegten Deponie ein Naherholungsgebiet mit Skilift und Sommerrodelbahn zu erschließen, begraben. Und der giftige Müll gleich mit. Der ganze Berg wurde aufwendig mit einer speziellen Kunststofffolie abgedichtet, damit kein Regenwasser mehr durchdringt. Zudem wurde eine Entgasungsanlage installiert. Durch Zersetzungsprozesse des Mülls werden Gase frei, vor allem Methan. Diese werden in der Anlage aufgefangen und zur benachbarten Kupferhütte Aurubis abgeleitet, die sie für das Befeuern ihrer Schmelzöfen nutzt.

100 Millionen für Sanierung

Weitere Sicherungsmaßnahmen sind eine Anlage zum Auffangen des Sickerwassers. Darin wird das dioxinhaltige Öl vom Wasser getrennt und verbrannt. Zusätzlich wird Grundwasser aufgefangen und gereinigt. Zwar ist kein Dioxin im Grundwasser enthalten, jedoch immer noch Schadstoffe. Um den Giftberg unter Kon­trolle zu bekommen hat die Stadt rund 100 Millionen Euro investiert, hinzu kommen jährlich bis zu 800.000 Euro, die die Umweltbehörde für die Instandhaltung der Anlagen und Prüfung der Sicherheit aufwenden muss.

Einen „gebändigten Drachen“ nennt Volker Sokollek von der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt die ehemalige Deponie in der gleichnamigen Multimediainstallation, die Besucher im Informationszentrum des Energieberges zu sehen bekommen. Einer, der die Führungen im Zentrum und auf dem Berg durchführt, ist Arne Popp von der Abteilung Kommunikation der Stadtreinigung. Er sagt: „Der Berg ist eine Blackbox, man sieht nur, wenn was rauskommt.“ Für ihn ist der Energieberg auch eine Art Mahnmal.

„Für die Leute hier im Viertel damals muss das schlimm gewesen sein“, sagt Annegret Kawohl. Die 84-Jährige wohnt in Billstedt. Damals hat sie von dem Umwelt­skandal in der Zeitung gelesen, jetzt ist sie zum ersten Mal in Georgswerder. Ihre Freundin Helga Zaske war vor zehn Jahren schon einmal an der ehemaligen Deponie. „Da sah das aber alles noch ganz anders aus, nicht so grün“, erzählt sie.

Als Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA) hat die ehemalige Deponie Georgswerder einen Imagewandel erfahren. Vom Todesberg zum Energieberg. Die Dauerausstellung setzt sich kritisch mit der Vergangenheit auseinander und zeigt die Möglichkeiten der erneuerbaren Energien. Auf dem Berg sind Photovoltaik- und Windkraftanlagen installiert, die Strom für umgerechnet 4.000 Haushalte auf der Elbinsel liefern. Durch eine Wärmepumpe wird der Energiegehalt des Grundwassers genutzt, um Raumwärme für das neue Betriebs- und Informationsgebäude zu erzeugen.

Heimat für Insekten

Arne Popp führt von Kita-Gruppen bis zu Studenten und Expertengruppen alle über den Energieberg. Auch Anwohner kämen immer wieder vorbei. Neulich hat ihm eine Frau mehrere Aktenordner mit Zeitungsausschnitten abgegeben, die ihr Mann über die Deponie, den Skandal und die Sanierung gesammelt hat.

Energieberg in Zahlen

Das Gelände ist 45 Hektar groß, wovon 22 Hektar (etwa die Größe der Binnenalster) öffentlich zugänglich sind.

Der Energieberg ist etwa 40 Meter hoch, der rundlaufende Horizonteweg misst 900 Meter Länge.

Die Gesamtinvestitionskosten des Projekts der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Wilhelmsburg belaufen sich auf rund 9,14 Millionen Euro, davon kommen 4,32 Mio. Euro vom Europäischen Fond für regionale Entwicklung (EFRE).

Die installierten Anlagen produzieren eine Gesamtleistung von 12.200.000 Kilowattstunden Strom aus Wind- und Sonnenenergie im Jahr, was für rund 4.000 Haushalte
 ausreicht

Das Informationszentrum am Energieberg zählt im Jahr rund 21.000 Besucher.

Öffnungszeiten: vom 1. April bis 31. Oktober jeweils Dienstag bis Sonntag: 10–18 Uhr (letzter Einlass 17.30 Uhr), montags geschlossen, Eintritt frei.

Auf dem Weg zum Gipfel erzählt Popp von einer Langzeitstudie zur Insektenzählung, die die Uni Hamburg am Energieberg durchführt. Bei einer der letzten Artenzählungen habe man die Westliche Beißschrecke auf dem kargen Boden des Berges entdeckt. Die Heuschreckenart steht in Deutschland auf der Roten Liste. Popp zeigt auf die mit Büschen und Bäumen bepflanzten Areale und erklärt, dass Eichen nicht auf dem Energieberg wachsen dürfen, da deren Wurzelwerk tiefer ragt als die rund 1,50 Meter dicke Schicht aus Muttererde und Drainagen, die über dem Abfall liegt.

Der Berg sackt zusammen

„Der Berg schrumpft“, sagt Popp als er mit federndem Schritt über den sogenannten Horizonteweg läuft, der sich auf eisernen Stel­zen 900 Meter um die Kuppe des Energieberges schlängelt. Durch die Zersetzungsprozesse des Mülls entweicht auch die Feuchtigkeit aus dem Berg und da wegen der Folie kein neues Wasser eindringen kann, sackt der Boden langsam ab. „Ziel ist es, den Berg ganz trockenzulegen“, erklärt Popp. Doch das werde noch mindestens 70 Jahre dauern.

Für Arne Popp ist der Energieberg einer der schönsten Arbeitsplätze Hamburgs. „Die Perspektive auf die Stadt von hier ist eine besondere.“ Außerdem findet er es spannend, dass man vom Gipfel einen Eindruck von dem Energiemix bekommt, der Hamburg versorge.

Er deutet zum Energiebunker Wilhelmsburg, in dem Strom und Wärme erzeugt werden, schräg dahinter sieht man die Schornsteine des Kohlekraftwerks Moorburg und eine Vierteldrehung weiter die Müllverwertungsanlage Borsigstraße. „Bei gutem Wetter kann man sogar bis zum Kernkraftwerk Krümmel gucken.“ Das sind doch schöne Aussichten.

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