Die multiple Isa

Sieben Junge Akteurinnen spielen die Hauptrolle in Wolfgang Herrndorfs Roman­fragment „Bilder einer großen Liebe“ in der Inszenierung von Christiane Renziehausen

Die Figur Isa, in vermeintlich autonome Bestandteile zerlegt und ambivalent ausgeformt Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Von Jan-Paul Koopmann

Die „Bilder deiner großen Liebe“ sind Fragmente, und das müssen sie auch sein. Weil Isa, um die es hier geht, nicht mehr zur Tagwelt gehört, in der die Dinge sich fügen und irgendwann ein abgeschlossenes rundes Ding ergeben: einen Lebenslauf, eine Biografie – oder doch wenigstens eine Geschichte. Und der zweite Grund ist Isas Erfinder, der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, der sich unter der nicht mehr erträglichen Last seines unheilbaren Hirntumors das Leben nahm, bevor er das Buch beenden konnte.

Die Jungen Akteure am Bremer Theater versuchen gar nicht erst, diese schmerzhaften Bruchstücke zu einem Ganzen zu verbinden. Was für ein Größenwahn wäre das auch? Herrndorf selbst hatte kurz vorm Ende hartnäckig nach einer zweiten Stimme verlangt, aber niemand konnte, oder wollte ran an diesen Text – als Koautor*in eines Sterbenden. Auf der Bühne stehen die Episoden nun wie im Text für sich, mit all ihren offenen Brüchen und den sich verlierenden Spuren.

Gleich sieben Isas treten auf und erzählen in langen Monologen von ihrer Reise: raus aus der Psychiatrie, nachts über Straßen, Flüsse und durch Wälder irgendwohin. Ganz kurz auch in einen anderen Roman: Herrndorfs „Tschick“, in dem Isa vor Jahren ihren kurzen ersten Auftritt hatte.

Bemerkenswert vielschichtig gelingt es Christiane Renziehausens Inszenierung, die Figur Isa nicht nur in vermeintlich autonome Bestandteile zu zerlegen, sondern auch diese sieben Facetten in sich ambivalent auszuformen. Nicht zuletzt, weil die Akteurinnen selbst nicht in den Archetypen erstarren, als die sie loslegen: Die Kindliche hat ihre ernste Seite, die Laszive ist mal in sich gekehrt, die Freche hat mitfühlende Momente und so weiter. Sie ringen spürbar so sehr mit sich selbst wie mit den anderen Isas und wecken eine enorme, letztlich selbstzerstörerische Energie – und das alles im Spiel, im Tanz, im choreografierten Miteinander, während sie an der Oberfläche den beklemmenden Text sehr nah am Original wiedergeben.

Die extreme Dichte hat allerdings ihren Preis: Vor lauter Isas, psychisch aufgewühlt und belastet (einer genauen Diagnose verweigern sich Text wie Inszenierung), gehen leider die Nebenfiguren ein wenig unter. Klar, die sind vor allem Impulsgeber. Es ist nicht einmal sicher, ob und wie real sie sind. Aber sie zeitigen keine glaubwürdige Wirkung auf das Isa-Multiple, wenn stets nur eine von ihnen eine Szene ausschert und mal kurz den Bootskapitän gibt, den taubstummen Jungen oder den Schriftsteller, der seine Tochter verloren hat – wie, weil es halt jemand machen muss. Sie bleiben Fremdkörper im Stück, das nur da wirklich gut ist, wo Isa zu siebt allein bleibt.

Sie wecken eine enorme, letztlich selbstzerstörerische Energie

Dann aber eben auch so richtig: tief in schweren Gedanken, trotzdem in krasser Gegenwärtigkeit verankert, klug – und frei. Ganz besonders in den wohl platzierten Momenten, in denen sich die maßvoll krawalligen Elektrobeats von Thorsten zum Felde in Popsongs verwandeln und die Akteurinnen so singen, wie diese Innerlichkeitsballaden, die im Radio so nerven – die hier aber voll zu ihrem Recht kommen. Nichts mit lila Wolken und Gejammer darüber, wie schön die Jugend doch war. Stattdessen zuckersüßes und finsteres Sinnieren darüber, was ein Leben eigentlich bedeutet, das unter Garantie irgendwann auch wieder vorbei ist.

Und weil das alles so wahr ist, kann man sich am Ende nur wundern, wie selten jemand davon spricht – wie fremd einem die eigentlich doch selbstverständliche Frage vorkommt, was das für ein Gefühl ist: „tot und gestorben und so wohl“.

Das ist schön. Es rückt einem aber auch auf die Pelle in dem engen, von Marthe Labes ausgestatteten Brauhauskeller. Möbliert nur mit einem durchsichtigen DJ-Pult, wirkt der mehr noch als sonst wie ein Schlauch, in dessen finsteren Windungen sich der Überblick übers Ganze endgültig verabschiedet. Ob Technoklub oder nächtlicher Wald: ohne verworrene Umwege kommt hier niemand raus.

Am 2., 3., 9. und 10. 6., Brauhauskeller, 19 Uhr