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Schreiender Bambus, singende Ragas

Das Label Ideologic Organ veröffentlicht Flötenmusik aus Neuguinea und rare Aufnahmen des Dhrupad-Meisters Ustad Zia Mohiuddin Dagar

Von Tim Caspar Boehme

Wenn man sich TV-Dokumentationen wie „Der blaue Planet“ ansieht, staunt man gern über die maritime Pracht der Fauna und Flora unter Wasser, die sich da auf dem Bildschirm entfaltet. Zugleich stellt sich die Frage, wie viele der ge­zeigten Dinge auf lange Sicht wohl noch in der Natur anzutreffen sein werden. Die Bilder geraten so womöglich unfrei­willig zum Nachlass zu Lebzeiten.

Ein bisschen ähnlich geht es einem beim Hören der Com­pilation „Crying Bamboos: Ceremonial Flute Music from New Guinea Madang“. Aufgenommen wurden diese Klänge 1979 auf Neuguinea von Ragnar Johnson, einem Herrn, über den ansonsten wenig in Erfahrung zu bringen ist, abgesehen davon, dass er 1977 mit einer gewissen Jessica Mayer eine thematisch recht ähnliche Platte veröffentlichte, „Sa­cred Flute Music From New Guinea: Madang/Windim Mabu“, die vor zwei Jahren bei Ideologic Organ wieder herausgebracht wurde.

„Crying Bamboos“ ähnelt den subaquatischen Meeresbildern insofern, als es Dokumente einer Praxis sind, die es in dieser Form heute vermutlich nicht mehr gibt. Zumindest heißt es über die dargebotenen Flötenklänge, dass sie von der letzten Generation von Männern stammen, die diese Technik während eines Initiationszyklus erlernten. Die meterlangen Bambusflöten dienen dabei der Imitation der Schreie von Geistern und werden zu rituellen Zeremonien gespielt.

Heiser klingen diese Schreie, zugleich seltsam losgelöst, wie in sich gekehrt, eher kontemplativ als ekstatisch, mit loopartigen Figuren, in denen die Melodie immer wieder in überblasene Höhen ausschlägt. Gelegentlich kommt etwas Perkussion hinzu, vorwiegend bleiben die Bläser aber sich selbst überlassen. Schroffe Meditationsmusik, für Trancezustände durchaus auch ohne Drogenzufuhr geeignet.

Eine weitere Rarität, die Ideologic Organ jetzt einer breiteren Öffentlichkeit wieder zugänglich macht, sind die Aufnahmen des nordindischen Musikers Ustad Zia Mo­hiud­din Dagar, eines der berühmtesten Vertreter des Dhru­pad, einer klassischen hindustanischen Musikform. Dagar spielte eine von ihm selbst modifizierte Rudra Vina, eine Art tiefergelegte Variante der Sitar mit vollen Basstönen.

Auch hier hat man es mit einem Vermächtnis zu tun: Dagar starb 1990, die Aufnahmen der beiden Alben entstanden 1986 in Seattle. „Raga Yaman“ bei einem öffentlichen Konzert, „Ragas Abhogi & Var­dhani“ während eines privaten Hauskonzerts, wie Labelchef Stephen O’Malley dazu begleitend schreibt. In beiden Fällen handle es sich um zuvor unveröffentlichte Archivaufnahmen.

Wenn man die Musik ohne Vorkenntnisse hört, könnte man meinen, einem Raga auf dem Kontrabass zu lauschen. Einem ungewöhnlich singenden, wohlgemerkt, dessen Klänge so weite Bögen ziehen, dass man kaum anders kann, als sich von ihnen bereitwillig in einen Zustand mehr oder minder tiefer Versenkung hinübergeleiten zu lassen.

Bei den „Ragas Abhogi & Vardhani“ ist der Klang noch eine Spur direkter als bei „Raga Yaman“; vermutlich waren die Mikrofone beim Hauskonzert dichter an den Instrumenten, zugleich merkt man, dass die Akustik in diesen Privatgemächern einen Hauch trockener war, worauf auch gelegentliches Räuspern und knappe Zwischenkommentare hin­weisen. Den Fluss der Musik stört das alles nicht. Drone mit Tiefe, kein Wunder, dass der Bassfanatiker O’Malley begeistert war. Anders als bei dessen Band Sunn O))) kommt Dagar aber vollkommen ohne Dröhn aus.

Ragnar Johnson: „Crying Bamboos: Ceremonial Flute Music from New Guinea Madang“

Ustad Zia Mohiuddin Dagar: „Ragas Abhogi & Vardhani“, „Raga Yaman (Rudra Veena // Seattle // 15 March 1986)“ (beide Ideologic Organ)

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