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Archiv-Artikel

Die armen Millionäre

FREITAGSCASINO VON ULRIKE HERRMANN Warum sich unsere Geldelite beharrlich mit dem Mittelstand verwechselt

Ulrike Herrmann

■ ist die wirtschaftspolitische Korrespondentin der taz. Ihre Wirtschaftskolumne „Freitagscasino“ erscheint einmal im Monat, jeweils am Freitag auf dieser Seite. Zuletzt schrieb sie über den „Zwang zum Crash“ bei den Bankern.

Deutschland ist ein sehr reiches Land. Aber wo sind die Reichen? Sie sind nicht aufzufinden. „Wir sind weiß Gott nicht reich“, verriet etwa Fürstin Gloria von Thurn und Taxis der Zeit. „Wir sind absoluter Mittelstand.“ Das meint sie offenbar ernst. Dabei taxierte das Manager-Magazin ihr Familienvermögen jüngst auf 500 Millionen Euro.

Fürstin Gloria ist keinesfalls die Einzige, die ihre Einkünfte herunterrechnet. Im Club der armen Reichen versammeln sich so unterschiedliche Charaktere wie die Karstadt-Erbin Madeleine Schickedanz, der Philosoph Peter Sloterdijk und der neue Außenminister Guido Westerwelle. Sie alle stehen für ein deutsches Phänomen: Reich sind höchstens die anderen.

Um mit Madeleine Schickedanz anzufangen: Sie sorgte kürzlich für Aufruhr, als sie in einem Bild-Interview kundtat, sie würde nur noch von 500 bis 600 Euro monatlich leben. Nach der Karstadt-Quelle-Pleite bliebe ihr nichts mehr. „Wir kaufen auch beim Discounter. Gemüse, Obst und Kräuter haben wir im Garten.“

Das „Schickedanz-Syndrom“

Aber wie arm ist Madeleine Schickedanz wirklich? Schon im Bild-Interview gab sie zu, dass sie mit ihrem Mann eine Gütertrennung vereinbart habe. Auch kam die Frage auf, wie sie ihre Hausangestellten bezahlt, wenn sie angeblich nur über 500 Euro monatlich verfügt. Und schließlich stellte sich heraus, dass sie die Familienvilla in Fürth auf ihren Sohn überschrieben hat, was die Residenz wohl vor dem Zugriff der Insolvenzverwalter schützen sollte. Madeleine Schickedanz ist also weit davon entfernt, ein Leben in Armut zu führen. Trotzdem scheint sie selbst den krassen Graben zwischen ihrem Reichtum und der Lebensrealität der ärmeren Bundesbürger, gar der Hartz-IV-Empfänger, nicht zu sehen. Ihr Interview ist naiv, nicht zynisch.

Dieses „Schickedanz-Syndrom“ wurde vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kürzlich näher untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass zwar 7 Prozent der Deutschen als reich gelten können, aber nur 1 Prozent zu den „sorgenfreien Reichen“ zählten. Denn die meisten Spitzenverdiener waren in den vergangenen fünf Jahren zumindest zeitweise beunruhigt, sobald sie an ihre eigene wirtschaftliche Zukunft dachten. Offenbar hat der soziale Stress enorm zugenommen, wenn selbst Reiche unter Abstiegsängsten leiden, obwohl sie objektiv immer wohlhabender werden. Diese gefühlte Unsicherheit scheint zu einem psychologischen Fehlschluss zu führen: Weil ihnen ihr Reichtum prekär erscheint, rechnen sie sich prompt zum Prekariat.

Jeder einzelne macht sich wirklich Sorgen, doch in der Summe formiert sich ein „Klassenkampf von oben“, der sich einer sehr wirksamen Waffe bedient: Die Reichen rechnen sich arm und ernennen umgekehrt die Armen zu den eigentlich Reichen. Sie werden als Schmarotzer denunziert, die die „Leistungsträger“ aussaugen. Wie diese rhetorische Figur prototypisch funktioniert, führte kürzlich Peter Sloterdijk vor. Der „Steuerstaat“ sei eine riesige „Transfermaschine“, um die „erfolglosen Segmente der Bevölkerung“ durchzufüttern. Daher rief er zum „antifiskalischen Bürgerkrieg“ auf, um die „Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven“ zu beenden.

Ganz argumentfrei zürnt Sloterdijk nicht. Er hat einen flüchtigen Blick in die Einkommensteuerstatistik geworfen und entdeckt: „Allein das oberste Zwanzigstel der Leistungsträger bestreitet gut 40 Prozent des Gesamtaufkommens an Einkommenssteuern, das obere Fünftel 70 Prozent.“ Diese Erkenntnis ist nicht falsch. Tatsächlich zahlt die untere Hälfte der Bevölkerung nur noch etwa 4,4 Prozent der Einkommensteuer. Es könnte also scheinen, als würden die Besserverdienenden kräftig geplündert.

Trotzdem irrt Sloterdijk. So ist es völlig absurd zu vermuten, dass sich hinter jedem hohen Einkommen ein „Leistungsträger“ verberge. In Deutschland entscheidet vor allem die Herkunft, wie hoch das Einkommen später ausfällt. Der Status wird von den Eltern an ihre Kinder vererbt. Das gilt besonders für die Eliten, die sich sehr effizient nach unten abschotten.

Sloterdijks billiger Denkfehler

Vor allem aber zitiert Sloterdijk die Steuerstatistik nicht vollständig. Er suggeriert einfach, dass ein hoher Anteil an der Einkommensteuer automatisch bedeute, dass die Reichen übermäßig belastet würden. Dies ist schlicht falsch. Selbst die obersten zehn Prozent der Steuerzahler führen im Durchschnitt nur 23,8 Prozent ihres Einkommens ab, wie im Armuts- und Reichtumsbericht nachzulesen ist.

Weil den Reichen ihr Reichtum prekär erscheint, rechnen sie sich zum Prekariat: Reich sind höchstens die anderen

Sogar Multimillionäre rechnen sich gekonnt arm. Das DIW hat einmal die Steuerlast der 450 reichsten Deutschen untersucht, die 2002 im Durchschnitt jeweils 22 Millionen Euro an Einkünften erzielten. Das erstaunliche Ergebnis: Selbst diese Superreichen zahlten durchschnittlich nur 34 Prozent an Einkommensteuern – „und damit deutlich weniger als den gesetzlichen Steuersatz“. Denn für sie gibt es vielfältige Freibeträge, Abzugsbeträge und andere Vergünstigungen, die sie steuersparend zu nutzen wissen.

Da ist jeder Normalbürger stärker belastet. Denn inzwischen sind nicht mehr die Steuern das Problem, sondern die Sozialabgaben. Selbst die Armen werden nicht geschont: Bei einem alleinstehenden Geringverdiener machen Steuern und Sozialabgaben inzwischen 47,3 Prozent der Arbeitskosten aus, hat die OECD ausgerechnet. Die Multimillionäre kommen vergleichsweise billig davon. Zur Sicherheit sei es wiederholt: Sie führen nur 34 Prozent ihres Einkommens ab. Die Umverteilung funktioniert also bestens – von unten nach oben.

Doch diese Realität verschwimmt nicht nur im Selbstverständnis der Reichen. Auch in der politischen Semantik wird kräftig umgedeutet und aus oben unten gemacht. Wie Reiche arm gerechnet werden, zeigt sich nirgends besser als im neuen Koalitionsvertrag. Gleich zu Anfang wird „mehr Netto vom Brutto“ versprochen, um die „unteren und mittleren Einkommensbereiche“ zu entlasten. 24 Milliarden Euro sollen jährlich verschenkt werden, von denen vor allem die Spitzenverdiener profitieren werden. Aber das ist ja die neue Unterschicht. ULRIKE HERRMANN