: Die Chance zur neuen Nummer 1
Der Fußballverein Holstein Kiel stand lange im Schatten anderer Nordklubs. Jetzt könnte er den HSV beerben und in die Bundesliga aufsteigen
Von Christian Görtzen
Es gab einmal eine Zeit, da trotteten etwa 2.500 Zuschauer zu den Heimspielen von Holstein Kiel. Mitte des vergangenen Jahrzehnts war das. Der Besuch war selten angenehm, was zum einen an den limitierten Ballkünsten der „Störche“ (so werden die Kieler Fußballer aufgrund ihrer knielangen roten Socken genannt) lag, zum anderen am Holsteinstadion, das bar jeglichen Komforts war.
Es handelte sich um ein zugiges Oval, das nur einigen Wenigen auf der Haupttribüne ein Dach über dem Kopf bot. Auf den Stehplatztribünen, die 75 Prozent des Zuschauerbereichs ausmachten, spross aus den Fugen das Unkraut. Und im Herbst und Winter peitschte der Wind den halbstarken Ultras, Studierenden und Romantikern, die mit einem Seufzen an die drei Jahre in der 2. Bundesliga Nord (1978 bis 1981) dachten, den kalten Regen ins Gesicht.
Über Holstein Kiel wurde schon Jahre zuvor gern gespöttelt. Die Comic-Figur Werner berichtete aus dem Kieler Zwietrachtstadion vom Oberliga-Spiel des Gastgebers Holzbein Kiel gegen den 1. FC Süderbrarup. Holzbeins Tor zum 2:2-Endstand erzielte Bernie Blindmann, der für eine Kiste Sprotten gekauft worden war.
In der Realität dümpelte Holstein Kiel noch vor sechs Jahren in der Regionalliga Nord herum. Ebenjene Vierte Liga, maximal die Dritte Liga – das schien das Los für den 1900 gegründeten Verein zu sein. In Kiel gab es eine klare Hierarchie: Die „Zebras“ galoppieren vornweg, und mit großem Abstand folgen die „Störche“. Bei den „Zebras“ handelt es sich um die Spieler des deutschen Handball-Rekordmeisters THW Kiel, die traditionell in schwarz-weiß-gestreiften Trikots spielen.
Den Platz im Schatten besaßen die Holstein-Kicker nicht nur in der eigenen Stadt. Nicht anders sah es aus im Vergleich mit den großen Fußballvereinen aus dem Norden. Der Hamburger SV labte sich am Ruhm des scheinbar ewigen Bundesligisten. Der FC St. Pauli war die Nummer zwei in Hamburg und Schleswig-Holstein. Dann kamen, mit großem Abstand und auf Augenhöhe, Holstein Kiel und der VfB Lübeck. Beide Klubs lagen in der Bedeutung auch noch hinter einem weiteren Handballverein aus dem Norden – der SG Flensburg-Handewitt.
Sechs Jahre später stellt sich die Lage anders dar. In Kiel wird weit mehr über Holstein geredet als über den THW, der kaum noch Titelgewinne feiern kann. Der HSV ist gerade nach 55 Jahren erstmalig aus der Bundesliga abgestiegen. Damit gibt es kein Gründungsmitglied mehr, das noch nie den Gang in die Zweite Liga hat antreten müssen. Und den FC St. Pauli hat Holstein in der vergangenen Saison hinter sich gelassen. Die Hamburger scheiterten kläglich an ihrem Ziel Bundesliga-Aufstieg. Sie wurden Zwölfter.
Dem Emporkömmling von der Kieler Förde, der erst seit vergangenem Sommer in der Zweiten Liga spielt, bietet sich als Dritter der Abschlusstabelle diese Chance – in zwei Relegationsspielen gegen den VfL Wolfsburg, den Drittletzten der Bundesliga. Der Sieger dieses Duells nimmt den letzten freien Platz in der 18 Vereine umfassenden Bundesliga ein. Im Hinspiel unterlagen die „Störche“ am Donnerstag in Wolfsburg mit 1:3. Mit einem 2:0 im Rückspiel am Pfingstmontag (20.30 Uhr) würde Kiel aufsteigen. In der Relegation gilt die Europacup-Regel, wonach auswärts erzielte Tore „doppelt“ zählen.
Einen ersten wichtigen Erfolg hatte Holstein Kiel schon am vergangenen Mittwoch errungen, als bekannt wurde, dass der Verein im Falle eines Aufstiegs seine Heimspiele nun doch im heimischen Stadion austragen darf. Dies hatte die Deutsche Fußball-Liga (DFL) zuvor untersagt. Der zu Hochmut neigende Verband veranstaltet die Bundesliga und Zweite Liga, dazu zählen auch der Spielbetrieb und die Lizenzierung.
Die DFL fordert von Bundesligisten ein minimale Stadionkapazität von 15.000 Zuschauern, Kiel kann derzeit nur 11.760 bieten. Holstein hatte sich schon um Ausweichstadien bemüht: Es wurden Anfragen an den HSV, St. Pauli, Werder Bremen, Hansa Rostock und Hannover 96 gerichtet.
Nun gab es doch noch die Ausnahmegenehmigung von der DFL. Weil Kiel versprochen hat, durch die Errichtung einer Zusatztribüne die Marke von 15.000 Zuschauerplätzen zu übertreffen.
Holstein Kiel, deutscher Meister von 1912, könnte jetzt zum ersten Mal seit Gründung der Bundesliga im Jahr 1963 zur klaren Nummer eins in Schleswig-Holstein und Hamburg werden. Das klingt nach Comic.
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