: „Wir grüßen die Telefonpoeten“
Der heutige Rundfunkredakteur Michael Augustin gründete 1978 das Kieler Literaturtelefon. Am Anfang stand eine Kleinanzeige in einer englischen Zeitung, dann schlossen sich Kulturamt, Oberpostdirektion, junge und alte Dichter und launische Technik an
Interview Frank Keil
taz: Woher kam die Idee zu einem Literaturtelefon, Herr Augustin?
Michael Augustin: Ich war 1978 zu Besuch in London, stieß dort in einer Zeitung auf eine Kleinanzeige: „Dial-a-Poem“. Da konnte man anrufen und es wurde einem am Telefon ein Gedicht vorgelesen. Ich weiß nicht mehr, on es Adrian Henri oder Roger McGough war, es war jedenfalls einer der Liverpool Poets. Ich fand die Idee umwerfend, und als ich zurück in Kiel war, erzählte ich in meiner literarischen Kampfgruppe, der „Literarischen Werkstatt Kiel“, davon. Aber als Studenten hatten wir keinen Anrufbeantworter! Also sagten wir: Dann muss das der Staat machen.
Da gab es kein Fremdeln?
Wir sind zum Kulturamt getigert, da saß damals als Referent Dieter Opper, der für das Prinzip „Kultur ist für alle da!“ stand. Er fand unsere Idee, dass wir die Gedichte liefern und das Amt den Anrufbeantworter, sofort gut. Und so wurde es umgesetzt.
Wie ging das technisch?
Das Gedicht oder ein Prosaauszug wurde auf eine Kassette gesprochen, maximale Länge: zweieinhalb Minuten. Man durfte bei der Aufnahme keine Pause machen, weil sich dann das Gerät ausschaltete. Also musste man sein Gedicht sehr zügig lesen. Es konnte nur einer zurzeit anrufen; rief eine weitere Person an, war besetzt.
War das nicht fatal?
64, studierte in Kiel und Dublin Anglistik, Volkskunde und irische Folklore. Er schreibt Lyrik und Kurzprosa - und wurde 1977 mit dem Hebbel-Preis ausgezeichnet. Seit 1979 ist er Redakteur bei Radio Bremen und dort für die Literatursendungen zuständig. Außerdem verantwortet er das Festival „Poetry on the road“ in Bremen.
Das Amt veröffentlichte damals einen Aufruf: „Wenn Sie kein eigenes Kassettenaufnahmegerät haben, kann Ihnen das Kulturamt eines leihweise zur Verfügung stellen, wir haben aber leider nur zwei Kassettenrekorder.“ Heute hört sich das skurril an, aber damals war das technisch gesehen sensationell.
Wie war das Echo?
Wir hatten schnell 500, 600 Anrufe die Woche. Und das steigerte sich. Irgendwann war das dem Kulturamt zu viel, das Gerät stand ja bei denen auf dem Schreibtisch. Also gab es die Idee, das Literaturtelefon in den Ansagedienst der Deutschen Bundespost aufzunehmen wie die Zeitansage oder die Wasserstandsmeldungen. Es folgte ein unglaublicher Briefwechsel mit der Oberpostdirektion, dem Postministerium, dem Bundespostminister, die es alle damals noch gab: Jeder musste sein Okay geben. Kurz gab es den Einwand, das Literaturtelefon sei eine Art Rundfunk und wir verstießen gegen das Rundfunkgesetz. Aber dann wurde das Telefon geschaltet und viele Städte riefen an, erkundigten sich, wie das geht – und richteten ihr örtliches Literaturtelefon ein: Hamburg, München, Berlin…
Wer hat damals in Kiel gelesen?
Das war ein bunter Haufen. Da waren wir jungen Hüpfer in unseren Zwanzigern, aber es gab auch alte, sedierte plattdeutsche Dichter, die furchtbare Sachen vorgelesen haben, wie wir damals fanden. Und es gab Leute, die zum allerersten Mal mit Texten an die Öffentlichkeit traten.
Wie schauen Sie heute darauf zurück?
Ich habe ja nicht viel gemacht, ich hatte nur die Idee.
Aber die war ja fruchtbar.
Jahre später – ich war längst bei Radio Bremen, wo ich bis heute Literatursendungen verantworte, traf ich den Dichter John Giorno, der bestens bekannt war mit Allen Ginsburg, William S. Burroughs, überhaupt den Beat-Poeten. Die hatten 1968 die New Yorker „Dial-a-Poem“-Bewegung gegründet, hatten im Moma eine Ausstellung, wo 50 Anrufbeantworter standen, die man anrufen konnte, um ihre Poems zu hören. Später haben sie ihre Aufnahmen auf Schallplatten gepresst. Auf einer steht: „Wir grüßen die Telefonpoeten dieser Welt“, und dann werden alle Städte aufgeführt, in denen es die gab: New York, Melbourne, Tokio – und auch Kiel. Da hat sich für mich ein Kreis geschlossen.
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