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„Halb Stradivari, halb Skalpell“

Der Fotograf Irving Penn betrieb seine Kunst als L’art pour l’art, aber genauso mit der Lust an der Analyse. Die zu seinem 100. Geburtstag entwickelte großartige Retrospektive ist nun bei C/O Berlin zu sehen

Irving Penn, „Cuzco Children“, 1948 Foto: C/O Berlin

Von Jenni Zylka

Oops, ein Malheur am Theaterabend. Das goldene Handtäschchen ist der Besucherin anscheinend hinuntergefallen. Heraus kullern: ein Opernglas; ein Miniparfümflakon; eine Zigarettenspitze; eine ­Haarnadel; ein einzelner Perlenohrring. Tabakkrümel. Und, nicht weit entfernt von dem eleganten schwarzen Damenschuh mit Schleife, über dem man das dramatisch wehende Operncape erahnt: mehrere Tabletten. Die den schönen Schein des Abends, die oberflächliche körperliche und/oder geistige Integrität einer kulturbewussten Theaterbesucherin schnell bröckeln lassen könnten.

Vanitas-Stillleben haben eine lange Tradition in der Kunst. In der Fotografie sind sie weniger oft präsent. Doch Irving Penn (1917–2009), dem die C/O-Galerie im Berliner Amerika Haus zum hundertsten Geburtstag diese große und großartige Retrospektive widmet, hat ein Faible für das Arrangieren von Vergänglichkeit: Sowohl seine frühen Arbeiten wie das beschriebene „Theatre Accident“ von 1947 als auch die späten, schwarz-weißen, in ihrer Vergrößerung wie abstrakte Gebilde wirkenden Fotos von fast aufgerauchten, zerdrückten Zigaretten, die im ersten Stock der Galerie neben den überdimen­sio­nierten Ausschnitten von verblühten, zerzausten Blumen hängen, thematisieren das zentrale Sujet Penns: die Zeit. Wer Fotos macht, der konserviert – während um ihn herum die Zeit weiterläuft.

Der aus New Jersey stammende Penn, der sich seine erste Kamera 1938 kaufte, zeigte früh seinen starken Gestaltungswillen – schon die ersten Arbeiten sind geprägt von besonderen Ausschnitten und Bearbeitungen. Seinen Fotoapparat, so wird Penn im Rahmen der ­Ausstellung zitiert, sehe er als Mischung aus „halb Stradivari, halb Skalpell“ – l’art pour l’art steht so neben der Lust an der Analyse.

Ein paar Minuten reichten: Ein zickiger Picasso kann ihm also schon mal gar nichts anhaben

In einer frühen schwarz-weißen Porträtreihe, die im Auftrag des damaligen Artdirectors der Vogue (und späteren bildenden Künstlers) Alexander Liberman entstand, fotografierte Penn 1947 und 1948 unzählige Prominente aus verschiedensten Bereichen, aber stets vor den gleichen Hintergründen: Entweder setzte er sie auf ein paar achtlos mit einem Teppich überworfene Kisten, so wie Alfred Hitchcock, der dort hockt wie eine dicke schwarze Möwe auf einem Pfahl. Oder er stellt sie in den Fluchtpunkt zweier im spitzen Winkel aufgestellter schmuckloser Kulissenflächen, so wie Igor Strawinsky, der, lässig in die Ecke gedrängt, seine Hand an das wertvolle Komponistenohr legt und dessen Größe man angesichts der Relationslosigkeit der Inszenierung nicht mehr schätzen kann: Sie haben etwas „Alice im Wunderland“-haftes, die auf den so genannten „Existenziellen Porträts“ dargestellten Zeitgenossen.

Die Vogue und Penn wurden schnell eine feste Paarung – laut Penn selbst war es wiederum Liberman zu verdanken, dass zunehmend Modefotografien bei ihm in Auftrag gegeben wurden. Doch Penn, der gern in Ruhe und Konzentration arbeitete, mied die quirligen Shows mit den vielen Fotografenkollegen, und fuhr fort, Kleidung und die dazugehörigen Mannequins im Studio vor einem neutralen Hintergrund abzulichten. Das berühmteste Mannequin, das die Ausstellung über eine ganze Wand hinweg verfolgt, wurde kurz darauf seine Ehefrau, die ehemalige schwedische Tänzerin Lisa Fonssagrives, mit der er über 40 Jahre verheiratet war. Die Vertrautheit und Sympathie zwischen dem Fotografen und dem Modell sind in den vielen Bildern, von denen einige die erfolgreichsten Vogue-Titel der 50er zierten, spürbar: Die lange Frau mit dem freundlichen Gesicht, die sich selbst als „Kleiderhaken“ bezeichnete, trägt die in grandiosen, üppigen Falten und dramatischen Silhouetten festgesteckten Galakleider mit einer Mischung aus Gelassenheit und Ironie.

Der Tatsache, dass er immer so viele „halbverhungerte, spindeldürre Mädchen“ fotografieren musste, setzte Penn etwas später seine Nudes-Reihe entgegen: schwappende, kopflose, eindeutig weibliche Körper, sich rekelnde Haut- und Fleischberge brachen damals und brechen noch heute mit der Ästhetik der von einer Öffentlichkeit als „fotografierenswert“ eingeschätzten Frauenkörper. Der, wie die Ausstellung eindrucksvoll dokumentiert, nimmermüde Penn fuhr im Jahr 1948 auch noch ins peruanische Cuzco, um die Dorfbewohner in einer wunderschönen, mattbunten Porträtreihe festzuhalten – die Galerie zeigt die Originalausgabe der Vogue von 1949 mit den farbigen Fotos, daneben hängen die schwarz-weißen Abzüge der Bilder, auf denen etwa ein Eierverkäufer samt kleinem Sohn stolz die fünf hübschesten Exemplare seiner Ware präsentiert.

Penn mit seiner fleißigen Neugier erlebte die Welt ebenso als politischer Fotoreporter wie als Studiofotograf. Fast ein ganzer Raum ist darum seiner „America, Inc.“-Reihe gewidmet: Männer und Frauen in ihrer Arbeitskleidung als „Zugsandwichverkäufer“, „Fischhändler“, „Bierfahrer“ oder „Losverkäuferin“ – symmetrisch angeordnet und im gleichen Format aufgenommen wirkt das pittoreske Konvolut wie ein Spielquartett einer stolzen „Small Trades“-Arbeiterklasse, der Penn ein liebevolles Denkmal setzt.

Irving Penn, „Girl with Tobacco on Tongue“ (Mary Jane Russell), New York, 1951 Foto: C/O Berlin

Auf vielen seiner nahen Kopfporträts, die zwischen den 50ern und den 90ern entstanden, schauen jedoch berühmte Menschen (Gianni Versace, Joan Didion, Audrey Hepburn) in die Kamera.

Oder auch nicht, wenn sie sich – wie Truman Capote – gerade das Auge wischen, oder eh eigentlich keine Lust haben, fotografiert zu werden: Über Penns ikonisches Picassobild, auf dem Picasso sich bis auf ein glänzendes Auge fast ganz hinter Hut und Schal verbirgt, heißt es, der Maler habe dem Fotografen zunächst überhaupt keine Audienz gewähren wollen, sich dann aber widerwillig zu ein paar Minuten breitschlagen lassen. Die haben Penn gereicht. Mit Geduld und Spucke näherte er sich dem Moment in Picassos Ausdruck, der das Foto perfekt machte, und legte später den besten Ausschnitt fest. „Porträts sollen wie Gemälde sein, fesselnd, bedeutungsvoll und unwandelbar“, hat Penn einst gesagt, und dafür die ­Malkünste von Goya oder Touluse-Lautrec studiert. Ein zickiger Picasso kann ihm also schon mal gar nichts anhaben.

Bis 1. Juli, C/O Berlin, ­Hardenbergstraße 22–24, tägl. 11-20 Uhr

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