: Flucht vor der Erinnerung
„Die Kunst des Vergessens“ ist das Motto des Festivals FIND an der Schaubühne. In einer Alzheimerklinik in der Antarktis vergessen Folterer der Pinochet-Junta. So erzählt es ein Theater aus Chile
Von Tom Mustroph
Aktuell mag der von Nachrichten geflutete Geist schier erschöpft sein angesichts der Meldungen aus Syrien und dem Jemen, aus Mali und Afghanistan. Da mag es als reflektierender Luxus anmuten, wenn sich der Theatergänger im Rahmen von FIND (Festival Internationaler Neuer Dramatik) bereits zurückliegenden Grausamkeiten und deren Bearbeitung zuwendet. Allerdings bietet der kleine lateinamerikanische Schwerpunkt des Festivals, das heute in der Schaubühne beginnt, die Gelegenheit, über die Genese von Gewalt, ihre vielfältige Verknüpfung mit der Macht und ihre ideologischen wie psychologischen Durchsetzungsmechanismen in menschlichen Gesellschaften nachzudenken.
Das Guerilla-Camp als Museum
Die chilenische Gruppe Teatro La Maria ist mit „El Hotel“, einer schwarzhumorigen Groteske um hochrangige Folterer der Pinochet-Diktatur, die jetzt die Gnade des Vergessens durch Alzheimer für sich in Anspruch nehmen, zu Gast (11. + 12. 4.). Das kolumbianische Mapa Teatro, im letzten Jahr bereits mit der Produktion „Los Incontados“ (Die Unerzählten) bei FIND am Start, kommt jetzt mit dem letzten Teil ihrer Serie über die „Anatomie der Gewalt in Kolumbien“, „La Despedida“ nach Berlin (19. – 21. 4.). Im tropischen Regenwald wird hier das mit dem Friedensvertrag der FARC-Guerrilla besiegelte Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen begangen. Ein früheres Guerrilla-Camp im Busch wird zum Museum, Helden werden Statuen, und was einst als Kampf zur Befreiung der Menschen gedacht war – und, partiell zumindest, in einem wüsten Rausch aus Koksen und Ballern überging – nun als rituelles Schauspiel aufgeführt.
Das Mapa Teatro, gegründet von den Geschwistern Rolf, Heidi und Elizabeth Abderhalden, allesamt Kinder Schweizer Auswanderer, kartieren in einem ehemaligen Kino im Herzen Bogotás seit mittlerweile mehr als 30 Jahren den politischen Alltag in Kolumbien mit den Mitteln von Performance, Video und Musik. In ihrer opulenten Serie „Anatomie der Gewalt“ legen sie Wert auf den hierzulande eher wenig reflektierten Zusammenhang von Fest, Lust und Gewalt.
„In unserer ‚Anatomie der Gewalt in Kolumbien‘ wollen wir die letzten 52 Jahre Bürgerkrieg reflektieren. Uns ist dabei aufgefallen, welche Schlüsselrolle Feste spielen. Die drei Akteure der Gewalt – die Paramilitärs, die verschiedenen Guerilla-Gruppen und die Drogenkartelle – nutzten immer wieder öffentliche und private, religiöse und weltliche Feste für ihre Massaker“, erklärt der Regisseur Rolf Abderhalden den Ausgangspunkt der Arbeit. Er sieht ein eiskaltes Kalkül hinter der Auswahl der Massakerorte. „Wenn Menschen feiern, dann sind sie nicht auf der Hut. Sie legen die Waffen ab, ihre Körper öffnen sich, auch Alkohol ist im Spiel. Die drei Akteure der Gewalt suchten ganz gezielt solche Veranstaltungen aus, um die Bevölkerung einzuschüchtern“, sagt er.
Die Amnesie nach der Orgie hingegen ist Ausgangspunkt von „El Hotel“ des Teatro La Maria aus Santiago. Diese 1999 von den damaligen Theaterstudenten Alexis Moreno und Alexandra von Hummel gegründete Gruppe legt in der Antarktis eine Alzheimerklinik an, in der sich auch Folterer der einstigen Pinochet-Junta aufhalten. „Die Idee zu diesem Stück entstand in unserer Wirklichkeit. Es gibt tatsächlich die Geschichte eines hochrangigen Militärs, Sergio Arellano Stark, der mit ganz brutalen Morden aufgefallen ist und der, als er sich lange nach dem Ende der Diktatur vor Gericht verantworten sollte, ein Attest beibrachte, dass er an Alzheimer litt“, erzählt von Hummel.
Arellano Stark war einer der Drahtzieher des Putsches von 1973. Er organisierte auch die sogenannte „Karawane des Todes“, bei der politische Gegner aus Hubschraubern ins Meer geworfen wurden. Motiv für die Inszenierung war auch ein Spruch des Diktators Augusto Pinochet selbst. Als er vor Gericht danach befragt wurde, ob der berüchtigte Geheimdienst DINA ihm direkt unterstellt sei – und er damit für dessen Taten unmittelbar und persönlich verantwortlich war – sagte er: „Ich erinnere mich nicht daran. Es ist auch nicht wahr. Und wenn es wahr wäre, dann erinnere ich mich nicht.“
Teatro La Maria und Mapa Teatro sind zwei freie Gruppen, die sich in den nicht einfachen Theaterlandschaften ihrer Heimatländer einen herausragenden Ruf erarbeitet haben. Das Festival FIND, das vor beinahe 20 Jahren an der Schaubühne gegründet wurde, bringt solche Theatermacher aus unterschiedlichen Teilen der Welt regelmäßig nach Berlin und zieht damit auch ein internationales, vielsprachiges Publikum an.
FIND, 6. – 22. April, Schaubühne
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen