: Alles wieder auf Anfang
Alte Fragen aktualisiert fürs Heute: Am Schauspiel Hannover erzählen Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason die isländische Sagensammlung „Edda“ bildgewaltig neu
Von Jens Fischer
Zurück auf Anfang, zum Schöpfungsmythos. Dorthin wagt sich das Schauspiel Hannover mit himmelhoch stürmendem, höllisch verzweifeltem Edda-Theater. Drei Teile, vier Stunden. In diffuses Halbdunkel getaucht ist die Urzeit-Bühne. Ein Lagerfeuer glimmt im Kunstschnee. Nebel, Nebel und noch mehr Nebel wallt. Durchhallt von chorischen Engelsvokalisen.
Bis Seherin Völva ihren Job antritt und weissagend loslegt. Einige alternative Fakten hat sie parat – wider die Tradition des wissenschaftlich aufgeklärten Christendenkens. Denn zwischen dem Nichts zu Beginn aller Tage und dem Etwas, zwischen toter Materie und dem Leben steht in ihrer Kosmogonie nicht die Idee von einem großen Zauberer, dem Allmächtigen. Sondern zwei Urkräfte vollziehen den Schöpfungsakt. Erst noch getrennt von der gähnenden Leere des Chaos berühren sie sich eben dort: die Todeskälte und die Bruthitze.
So kennt es Völva aus ihrer nordischen Heimat, dem Eisland mit brodelnden Geysiren und Vulkanen. Geboren aus Feuer und Eis ist der sagenhafte Reifriese Ymir – bald aber nur noch Materiallager. Aus dem Fleisch entsteht die Erde, das Blut speist die Meere, Knochen stapeln sich zu Gebirgen und der Schädel wird als Himmel über alles gewölbt.
So steht es in der Edda. So beginnt die Seherin zu erzählen. Darstellerin Susana Fernandes Genebra steigert sich poetisch hinein ins Werden des Kosmos, der Welt, Götter und Menschen. Bis ein erst klimpernder Pianist rhythmisch Akkorde zu zerhacken beginnt. Der Worte Strom ist nun nicht mehr zu stoppen. Wird lauter, wütender – Völva schreit sich heiser. Denn nach dem Aufstieg ist vom Fall der Götter zu berichten, zu ihren übermenschlichen Kräften kommen halt menschliche Abgründe. Nach dem ersten Mord beginnt die Drehbühne zu rotieren und wird fortan kaum mehr ruhen.
Auf das Recht des Stärkeren mit Gewalt zu pochen, hat einen Mechanismus in Gang gesetzt, der im Untergang mündet. Riesen und Götter rotten sich gegenseitig aus. Ragnarök. Einmal durchgeatmet – schon blickt die Seherin liebäugelnd ins Publikum und behauptet, das Weltende sei ein Neuanfang. Für ein neuerliches Weltende. Alles nur ein tödlicher Kreisverkehr. Ewiger Krieg. So die Botschaft.
Zum Hintergrund referiert ein Professordarsteller über die zyklische Zeitstruktur der Edda, die aus dem bäuerlichen, an Jahreszeiten orientierten Nordmännerdenken hergeleitet ist. Während in Mitteleuropa die Zeit eher linear verstanden wird – immer nur zielgerichtet geradeaus rast. Das versucht auch Thorleifur Örn Arnarssons Inszenierung. Sie kommt dabei zwar immer wieder nachdenklich ins Schlingern, aber wirkungsmächtig zum Finale.
Nach der atemberaubenden Monolog-Ouvertüre werden einige Episoden der mythologisch schier endlos verzweigte Geschichtensammlung noch mal in Prosa dargeboten als anekdotenhaft verspielte Nacherzählungen. Stets bemüht, darin heutiges Leben zu spiegeln und den blutroten Schicksalsgedankenfaden freizulegen. Das Ensemble hatte dafür mit drei Monaten doppelt so viel Probenzeit wie an Stadttheatern üblich. Durfte vor dem Regiezugriff wochenlang eigenständig am Bühnenbild, an Kostümen, Rollen und Welterklärungsaspekten arbeiten. Erst dann kam Arnarsson dazu und komponierte die performativen Assoziationen und Kommentare zur vielstimmigen, freigeistig instrumentierten Aufführungssinfonie.
Der in Alt-Isländisch verfasste Originaltext aus dem 13. Jahrhundert gilt als schwer zugänglich bis hermetisch. Anders problematisch sind die deutschen Übersetzungen, erst wurde Christentum hineingewoben, dann die nordischen Göttersagen zum Erbe des deutschen Volks stilisiert und schließlich der nationalsozialistische Rassenwahn herausgedeutet. Die kontaminierte Rezeption erfordert also neu verfasste, aktuelle Nacherzählungen.
Mikael Torfason schrieb sie den Darstellern. Auch Erklärtexte. Mit denen führt Christoph Müller als „Experte“ das Publikum und alle diensthabenden Bühnenarbeiter durchs Geschehen – wie durch ein Live-3-D-Edda-Museum. Erläutert auch, um den kulturellen Untergang Islands zu verhindern, müsse die Erinnerung an die heidnische Uredda wach gehalten werden. Schleppt mahnend zur Illustration eine Jesusfigur über die Bühne. Die braucht hier keiner.
Drumherum toben höchst amüsante Darbietungen. In Comic-Manier werden Edda- als klassische Superhelden-Figuren ironisiert und Bösewichter theatralisiert – Philippe Goos verkündet als Loki in buckliger Richard-III.-Manier seine geplanten Untaten dem Publikum. Ein Comedy-Spaß ist es, wenn Thor seinen Hammer verliert, woraufhin Freya und Loki einen Zickenkrieg starten, weil sich keine für die Rückholaktion opfern will, die Boss Odin befohlen hat: Szenen einer patriarchal dominierten Familie. Schließlich erklären Mythen in symbolischer Verhüllung ja nicht nur Natur-, sondern auch zwischenmenschliche Phänomene.
Sanfte Blende, dritter Teil. Während die Darsteller noch anspielungsreich mit den Edda-Stoff zu Männlichkeit, Heimat, Migration und zum freien Willen improvisieren, schleicht das Hauptthema in den Vordergrund: Sterben. Aus dem Off eingesprochen, sich mit dem Bühnengeschehen kurzschließend oder es überschreibend, kommt ein sehr persönlicher Bericht Torfasons über den kürzlich miterlebten Tod seines Vaters zu Gehör.
Der hatte erfolglos mit dem deutschen Gott der Island aufgezwungenen Lutherei und dem amerikanischen Gott der Zeugen Jehovas angebändelt, wandte sich dann dem germanischen Neo-Heidentum und damit auch der Edda zu. Ein wahrer Wikinger und ein exzessiver Trinker, erklärt der Sohn. Und vergleicht die private Tragödie mit den tragischen Heroen Odin und Thor. „Wenn du mit ihnen deinen Weg gehst, musst du standhaft bleiben und selbst Verantwortung dafür tragen, was du tust – ohne Reue. So war mein Vater.“ Geradezu existenzialistisch standhaft – und eisern verzweifelt. „Dies ist kein Leben, das es wert wäre, gelebt zu werden“, sagt er. Glaubt nicht an Erlösung, sondern Edda-gemäß an den Tod. Dem er sich entgegentrinkt.
Bis zuletzt begleitet von seinem Sohn. Der das in anrührenden Worten beschreibt. Das Sterben dazu spielt Loki, wird krampfgeschüttelt in den Theaterkeller gefahren und währenddessen wird das Bühnenbild abgebaut. Hier endet die Illusionsmacht des Theaters. Der Neuanfang bedarf des leeren Raumes. Mit diesem Bild hatte der Regisseur schon seine Hannoveraner „Hamlet“-Inszenierung triumphal beendet. Jetzt funktioniert es erneut. In einer erst furiosen, dann kurzweiligen, schließlich Ernst machenden Uraufführung. Die mit zehnminütigen Ovationen gefeiert wurde.
So, 1. 4., 17 Uhr, Schauspiel Hannover. Weitere Aufführungen: 13. 4, 18.30 Uhr, und 21. 4., 18 Uhr
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