: Gefahren im Urlaub
Das Filmfestival Diagonale in Graz hegt den selbstkritischen Blick auf Österreich
Von Carolin Weidner
„Hinter den freundlichsten Gesichtern waren oft die dunkelsten Verstecke“, schrieb Franz Innerhofer in seinem Roman „Schöne Tage“, der 1981 von Fritz Lehner verfilmt wurde und auf der diesjährigen Diagonale in Graz zu sehen war. Als Antiheimatfilm tituliert, führt „Schöne Tage“ auf einen Hof ins österreichische Oberpinzgau, wo es zugeht „wie im Mittelalter“, obwohl der Film einige Jahrhunderte später, nach dem Zweiten Weltkrieg spielt. Der feingliedrige, unehelich geborene Junge Franz wird zu seinem Vater geschickt, unter dessen unmenschlichem Regime es Arbeit zu verrichten gilt, die so hart ist, dass ihm bald die Kleidung als Fetzen am mageren Leibe hängt.
„Schöne Tage“ ist einer der Kernfilme im Special „Kein schöner Land“, bestellt vom Österreichisches Filmmuseum und dem Filmarchiv Austria, die sich unterschiedlich am Thema „Provinz“ zu schaffen gemacht haben. Das Filmarchiv suchte Filme mit Hotel- und Urlaubambiente, etwa „Rendezvous im Salzkammergut“ (von Alfred Stöger, 1948) oder „Im weißen Rössl“ (Werner Jacobs, 1960). Schlüpfrig ging es im Hotel „Harmonie“ zu, dessen Annonce die 16-jährige Kathi in der Süddeutschen Zeitung aufgespürt hatte: Sie wird das Zimmermädchen in „Harmonie“ und somit auch in „Perfekt in allen Stellungen“ (Fritz Fronz, 1971). Hinter Hoteltüren entdeckt sie „eine Welt aus Falschheit, Perversion, Abartigkeit.“
Mit Kathi mochte man wirklich nicht tauschen. Aber genauso wenig mit Rita in Jessica Hausners „Lovely Rita“ (2001), für die sich ein Tiefpunkt an den nächsten reihte. Da ist ein Busfahrer, mit dem es ein erstes Mal auf einer Disco-Toilette zu erleben galt; ein Vater, der sich an hochgeklappten Klodeckeln hochgeilte; sowie der neue Nachbarsjunge, liebenswert und mit Alkoholpralinen unterm Arm, den das Drehbuch oder die Provinz immerzu mit Blaulicht und Sauerstoffmaske ins Krankenhaus abtransportierte.
Der Brückenschlag zwischen den Programmen von Filmmuseum und Filmarchiv gelang indes dem ORF-Archiv unter der bezaubernden Überschrift „Der Untergang des Alpenlandes – Fernsehkunst und Jugendliebe: eine Landpartie durchs ORF-Archiv“. Im ersten Teil der TV-Trilogie „Jugendliebe – Wem Gott schenkt ein Häschen“ (Lukas Stepanik, 1983) fuhr eine kleinbürgerliche niederösterreichische Kleinfamilie in den Italienurlaub, aus dem Tochter Maria nicht nur Urlaubsbräune, sondern auch eine Schwangerschaft mitbrachte. Ein Kleinod der Heuchelei und Beengung, schauspielerisch angeführt von Ingrid Burkhard in der Rolle der Mutter (die mit dem Großen Diagonale-Schauspielpreis 2018 geehrt wurde), aber auch von Michaela Galli als Maria, die man, ähnlich Rita, Kathi oder auch Franz, allzu gern aus ihren alpenländischen Lebensgefängnissen befreit hätte.
Es sich gemütlich zu machen und mit dem rechten zeitlichen Abstand auf all das zu schauen, was einmal war und zum Glück nun nicht mehr ist, blieb dem Zuschauer in Graz jedoch versagt. „Wie geht es dem Patienten Österreich heute?“, war die Frage, die man (nicht nur) am Eröffnungsabend des Festival stellte. Das Leitungsduo Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber wusste von „Populismusbomben“ und „braunen Rülpsern“ zu berichten, rief zu einem Mehr an „Empathie“ und Weniger an „Emotion“ auf. Im Kino sehen sie die Möglichkeit einer „Gegenbewegung zu vorschneller Meinungsbildung“, auch, weil so mancher Film „seine eigene Zerstreuung zu reflektieren weiß“.
Auf diesen Kontext reagierten die Diagonale-Filme vielfach: Der Eröffnungsfilm „Murer – Anatomie eines Prozesses“ von Christian Frosch reinszeniert das Gerichtsverfahren gegen Franz Murer, dem „Schlächter von Vilnius“, in Graz 1963 und gelangt zu dem Schluss, dass der freigesprochene österreichische SS-Führer nicht an einem „seelischen Defekt“ litt, sondern aus „Kalkül“ handelte. In Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm „Die bauliche Maßnahme“ geht es um einen Grenzzaun am Tiroler Brenner, der erst groß besprochen wird und dann in einem Container möglicherweise doch ein Grab findet. Und Ulrich A. Reiterers „Die Untoten von Neuburg“ beobachtet, wie sich während des „steirischen herbst“ 2017 zwei US-Amerikaner daran machten, Elfriede Jelineks Roman „Die Kinder der Toten“ mit vielen Freiwilligen auf 666 Rollen Super-8-Film zu bannen. Zu sehen ist eine Parade des Grauens, selbstvergessen im Spiel, friedlich, angstfrei.
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