Jürgen Gottschlich über das EU-Türkei-Treffen in Bulgarien: Erdoğan in Not
Wer den auftrumpfenden, aggressiven Ton regierungsnaher Medien in der Türkei gegenüber der EU gewohnt ist, kann sich über die Schlagzeilen zum jüngsten Treffen der EU-Spitzen mit Präsident Erdoğan am Montag im bulgarischen Warna nur wundern. „Gemeinsam sind wir stark“ ist da zu lesen – und das, obwohl EU-Ratspräsident Donald Tusk nach dem Treffen sagte: „Wir konnten uns über keinen strittigen Punkt einigen, mit Ausnahme des EU-Türkei- Flüchtlingsabkommens vielleicht.“
Normalerweise müsste die Regierungspresse schäumen über die „Kreuzritter, die die Terroristen beschützen“, doch nichts dergleichen. Stattdessen werden die Leser hoffnungsvoll darauf hingewiesen, dass schon bald ein weiteres Spitzentreffen geplant sei. Diese Reaktionen zeigen, dass Erdoğan in Not ist. Seit seinen schrillen Ausfällen gegen die EU im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen musste er erfahren, wie sehr die Türkei vom Handel mit der EU und den Investitionen aus dem EU-Raum abhängig ist. Weder Russland noch China und schon gar nicht die muslimischen Nachbarländer können das ausgleichen. Die türkische Wirtschaft ist im Abschwung. Der Motor des Wachstums, die Bauindustrie, steht vor dem Kollaps. Es werden kaum noch Immobilien verkauft. Die türkische Lira ist gegenüber dem Dollar so schwach wie seit 1981 nicht mehr.
Wie kann, wie sollte die EU darauf reagieren? Echte Wirtschaftssanktionen könnten Erdoğan jetzt tatsächlich gefährlich werden, doch das würde voraussetzen, dass alle EU-Länder sich daran beteiligen. Das ist ja schon in Deutschland nicht vorstellbar. Doch statt nur festzustellen, dass man sich eben bei vielen Themen nicht einig ist, gäbe es noch eine andere Möglichkeit: konkrete Forderungen mit konkreten Angeboten verbinden. Etwa indem man die Aufhebung des Ausnahmezustands mit dem Beginn von Verhandlungen über die Erweiterung der Zollunion verknüpft. Das würde etliche Kritiker aus dem Gefängnis bringen – und könnte da neue Wege öffnen, wo jetzt nur Stillstand herrscht.
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