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Steht immer noch da wie ein angelutschtes Calippo

Zum Abschluss des Mærzmusik-Festivals fand im alten Heizkraftwerk einKonzertmarathon statt, das dreißig Stunden dauerte. Protokoll einer Klangkur

Von Jens Uthoff

Samstag, 24. März. 19.03 Uhr. Ein dumpfes Grollen ist das erste Geräusch, das ich wahrnehme, als ich das alte Heizkraftwerk an der Köpenicker Straße betrete. Der Abschluss des Mærzmusik-Festivals steht auf dem Programm, „The Long Now“. Ein 30-Stunden-Konzertmarathon mit experimenteller und elektronischer Musik, Neuer Musik und (Free) Jazz. Unter anderem dabei: die alten australischen Jazz-Haudegen The Necks und der kanadische Saxofonist Colin Stetson. Als Besucher soll man ein anderes Zeitgefühl bekommen (und das in der Nacht der Zeitumstellung), einen Kurzurlaub vom Jetzt machen. So jedenfalls sinngemäß die Ankündigung. Klingt gut.

19.15 Uhr. Ortsbegehung. Das alte Kraftwerk ist von innen immer wieder aufs Neue beeindruckend. Ein monumentaler Betonkoloss, spärlich beleuchtet, spooky. Weite Räume mit Betonpfeilern. In der unteren Etage Tiefgaragenfeeling, ein Film läuft, in dem Menschen herumsitzen. Auf einer Zwischen­ebene ist in einem Raum eine Installation zu sehen, schmelzende Eisblöcke, angestrahlt. Fünf an der Zahl, mittig in einem großen Raum platziert. Ein sechster Eisblock liegt in einer Gefriertruhe, mit eingearbeitetem Tintenfisch. Auf dem Main Floor – der ist ähnlich wie im Berghain, nur größer – sind überall Feldbetten aufgestellt, das wird ja eine längere Geschichte hier. Es sieht aus wie im Lazarett. Obwohl das Publikum eher international ist, hat es schon elementare deutsche Tugenden gelernt: sich frühzeitig die besten Liegen zu sichern. Die meisten sind schon mit Klamotten belegt. Ich finde noch eine freie Liege und tue es ihnen gleich.

20.52 Uhr. Die ersten beiden Acts haben gespielt. Der US-Ambientmusiker Robert Aiki Aubrey Lowe, auch als Lichens bekannt und früher Mitglied der Chicagoer Progband 90 Day Men, hantiert gerade mit modularen Synthesizern. Gleichmäßige, lange gehaltene Frequenzen sind zu hören. Ich liege auf meinem Feldbett. Dämmern und lauschen.

21.30 Uhr. The Necks sind inzwischen auf der Bühne. Sie spielen gemeinsam mit dem libanesischen „A“ Trio. Vier Stunden Improvisation. Sechs Musiker, zwei Kontrabässe, Flügel, Schlagzeug, Trompete, Gitarre, Klangstäbe und jede Menge anderer Utensilien. Sachte, tastend geht es los, mit leisen Streichern und behutsamen Klaviertönen, mit Geraschel und Gerassel von Tony Buck am Schlagzeug. Eine Dreiviertelstunde geht das in etwa so – es ist erst das Warm-Up.

23.36 Uhr. The Necks und das „A“ Trio spielen immer noch. Jetzt dynamischer. Es klackert, knackt, knarzt. Die Akustikgitarre und Kontrabässe werden als Rhythmusinstrumente eingesetzt. Mazen Kerbajs Trompete schnattert. Die meisten Besucher liegen schon auf ihren Betten, einige schlafend, andere an die Decke starrend. Wie bei einer Klangkur, der wir uns hier gemeinsam unterziehen.

Sonntag, 0.38 Uhr. Das Sextett ist auf der Zielgeraden. Toll, das Sägen auf der Akustikgitarre, das Gleiten auf dem Flügel, das Stottern, das Quäken der Trompete. Die Streicher hängen derweil auf einem Ton fest. Neben mir zwei Ausdruckstänzer, ein Pärchen, Rücken an Rücken, ebenfalls improvisierend. Nun ja. „Muss jeder selbst wissen“, pflegte ein alter Freund in solchen Fällen zu sagen.

3.08 Uhr. Eine Stunde ist wegen der Zeitumstellung im schwarzen Loch verschwunden. Elodie bestreiten die fünfstündige Nachtperformance. Timo van Luijk und Andrew Chalk, die beiden Musiker, die sich hinter dem Namen verbergen, erzeugen gerade mit Synthesizern harmonisches Pluckern, ein schöner Einschlafsoundtrack. Da mir meine Liege geklaut wurde (keine Etikette, diese internationalen Besucher!), lege ich mich auf einen Holzschemel und penne weg.

7.14 Uhr. Geblubber weckt mich. Also richtiges Geblubber. Irgendwo tröpfelt, träufelt Wasser, was mich sofort Richtung Toilette treibt. Auf dem Weg zurück sehe ich, woher der Wasserfluss kommt: Die französische Avantgardekünstlerin Tomoko Sauvage sitzt im Schneidersitz vor fünf Schüsseln, die mit Wasser befüllt sind. Tonabnehmer hängen darin. Die gebürtige Japanerin taucht ihre Hände in das Wasser, spielt damit rum, das verstärkte Blubbergeräusch erfüllt den Raum. Sauvage hat eine spannende musikalische Biografie, kam über Terry Riley und Alice Coltrane zur klassisch-indischen Jaltarangam-Musik, bei der man auch Töne mit wassergefüllten Schüsseln erzeugt hat. Sie selbst nennt ihren Stil auf einem Album „Musique Hydromantique“. Mit Romantik ist noch nicht so viel bei mir am frühen Morgen, aber schön meditativ ist es. Leider hat sie nach einer halben Stunde Soundprobleme und bricht ihr Set ab.

9.03 Uhr. Die meisten schlafen noch. Ich bin halbwach. Melanie Velarde spielt sehr reduzierte Electronica, klingt wie eine elektronische Spieluhr. Sechs große Ballons werden im Raum hochgezogen. In der Zwischenetage sind vier von fünf Eisblöcken zusammengebrochen. Einer steht immer noch da wie ein angelutschtes Calippo.

9.45 Uhr. Frühstück an der Jannowitzbrücke. In der Sonne. Clubgänger taumeln Richtung U8.

10.45 Uhr. Wieder im Bunker. Die britische Electronica-Künstlerin Kate Carr steht vor ihrem Mischpult, eine schöne Erscheinung in knallrotem Oberteil. Ihre Sounds sind mal wispernd, mal wummernd, mal schickt sie gedämpfte Bässe in den Magen, mal ein leises Rascheln Richtung Ohr.

13.16 Uhr. Es folgen die Morton-Feldman-Festspiele. Das S.E.M. Ensemble spielt in Trio-Besetzung „For Philip Guston“, eines der bekanntesten Stücke des US-Komponisten. Vibraphon, Glockenspiel, Querflöte, Piano. Fünf Stunden, die sich dehnen und dehnen, es ist ein langsames, sanftes Stück Musik. Faszinierend die Konzentration der nicht mehr ganz jungen Musiker: Joseph Kubera, leichter Buckelansatz, sitzt hellwach jeder Note folgend am Klavier, Petr Kotik wechselt zwischen verschiedenen Querflöten, Chris Nappi setzt sein reduziertes Vibraphon- und Glockenspiel pointiert ein. Die meisten dösen auf ihren Liegen vor sich hin, inzwischen ist es etwas leerer, alle Liegen sind aber noch besetzt.

14.25 Uhr. Eine interessante Mischung, das Publikum des Long Now. Einige fashionbewusste junge Leute sind da. Plüschmäntel, weiße Roboterstiefel, schwarze Polyesterhosen und akkurate Kurzhaarschnitte mit Undercut sind bei den Frauen zu sichten. Die Haare oft wasserstoffblond oder schwarz gefärbt. Bei den modischen Männern sind Nickelbrille, kurzrasiertes Haar und Baumwollmütze angesagt. Dazwischen aber auch viele Ü60er- und Ü70er-Typen mit langen Haaren und gekräuselten Graubärten. Wenige/keine Normalos.

Die Besucher*innen sollen ein anderes Zeitgefühl bekommen, einen Kurzurlaub vom Jetzt machen

16.32 Uhr. Petr Kotik lässt den letzten Querflötenton des Morton-Feldman-Stücks ertönen. Anhaltender Applaus. Flötist Kotik schnauft nach fünf Stunden Musikarbeit tief durch.

19.34 Uhr. Es wird wieder etwas lebendiger und voller. US-Elektroniker Huerco S. spielte ein aufregendes Frequenzengemisch, überwiegend ohne Beat, aber mit feinen, übereinandergelegten Patterns. Und mit wuchtigem Bass. Songstrukturen lugen darunter hervor, sehr raffiniert.

21.31 Uhr. Colin Stetson pumpt Luft in sein riesiges Basssaxofon. Zum Teil brüllt und singt er auch in das Instrument. Der kanadische Saxofonist hat eine Statur wie ein Diskuswerfer, und zwischen den Stücken macht er auch einen Gesichtsausdruck wie ein ausgelaugter Leistungssportler. Aber diese Technik, dieses Singen ins Saxofon, das Blasen und der Beat, den er zugleich mit der Hand am Instrument erzeugt – das sieht auch nach harter Arbeit aus. Er klingt zwischendurch wie ein brüllender Elefant.

22.56 Uhr. Second Woman spielen ein Elektronik-Set. The Long Now neigt sich dem Ende zu. Das Format hatte wirklich Längen – aber das ganz bewusst; denn wenn man will, dass Zeit irgendwie jenseits von Ziffern spürbar wird, muss man eben auch ein 5-Stunden-Stück wie Morton Feldmans „For Philipp Guston“ aufführen. Während dem „Mærzmusik“-Festival ja zum Teil vorgehalten wird, die Musik stehe nicht mehr im Mittelpunkt, sondern der (pseudo-)diskursive Überbau, gilt das für The Long Now nicht im Geringsten. Die 30 Stunden sind sorgsam kuratiert, decken ein breites stilistisches Spektrum ab. Entdeckungen wie Huerco S. und Tomoko Sauvage würde man etwa sonst nur vom CTM-Festival oder vom Atonal erwarten. Für den Rezipienten steht das Hören, nichts als das Hören im Vordergrund.

23.50 Uhr. Lustmord spielt, das Projekt des walisischen Soundkünstlers Brian Williams. Der Name ist Programm: finsterer Noise, gellende Geräusche, ziemlich gut. Aber es reicht, ich muss mal schlafen und packe meine Sachen. Ein letztes Mal schaue ich in der Zwischenetage bei der Installation vorbei. Auch der letzte Eisblock ist gefallen. Die Brocken liegen in einer kleinen Pfütze.

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