DAS LEBEN DER ANDEREN : Friedenstauben
„Ick lass nüscht mehr anbrennen“, sagt der Bärtige in Jeanskomplettrüstung – Hose, Jacke, Hemd. „Seit der Sache mit meine Alte damals hab ick ja bloß noch rumjehangen.“ Acht Sitzreihen vor ihm verstehe ich ihn immer noch gut. Der Rest im M49er auch. Eine neue Frau hat der Bart mit Jeans kennengelernt, so erfahren wir in den folgenden Minuten, übers Internet. Und er freut sich, weil sie ihn nicht dick findet: „Janz schön dünn, hat se jesacht, und da hab ick jesacht, dann kannste mir ja mal ordentlich wat kochen, und dann hat sie jesacht, dit machtse.“ Hat sie jesacht, hab ick jesacht. Das Leben der meisten Leute ist arschöde. Meins auch.
Angesprochen auf sein Tun, heult der Verkünder des eigenen Seins auf. Man werde doch wohl noch frei reden dürfen. „Ey, Alter, die wollen mich hier nicht telefonieren lassen.“ Hässliche Assoziationen schleichen sich ins Hirn: Unterschicht, Bauer sucht Frau, zu niedrige Bierpreise. Bis mir die Akademikertrulla von gestern einfällt, die in gleicher Lautstärke drei Freundinnen nacheinander anrief, um ihnen von den Kritzelbildchen zu erzählen, mit denen sie ein Manuskript verziert hat. Aus Prollhass wird allgemeiner Menschenhass. Bis, ich weiß nicht woher, mich warme Versöhnlichkeit erfüllt. Das ist es doch, was das vereinigte Europa uns geschenkt hat. Frieden heißt Langeweile, und das ist gut so. Ruhe, Sicherheit und der Mensch im Zentrum allen Seins. Jeansmann und Kritzelfrau, da mag es Eurokrise und Staatsdefizite geben, Ihr seid die leuchtende Seite der Europäischen Union, außen vielleicht schrammelig und grau, aber inwendig weiß und zart. Der Bärtige, als hörte er mich, senkt seine Stimme, ist jetzt nur noch im halben Bus zu hören, für ihn muss das ein Flüstern sein, und sagt: „Ick weeß nur nicht, beim Ficken, ob ick da jetzt beim ersten Mal, also mit oder ohne Gummi, also weeßte?“ Und da muss ich aussteigen. DANIEL SCHULZ