: Der Unvollendete
Heute feiert Brandenburg das zehnjährige Bestehen des Nationalparks Unteres Odertal. Der Verpflichtung, bis 2010 die Hälfte der Auenlandschaft als Totalreservat auszuweisen, möchte sich die Landesregierung aber schon bald entledigen
von UWE RADA
Der Unbekannte
Über allzu großen Besucherandrang kann die „Linde“ nicht klagen. Selbst an Sommerwochenenden sind in der einzigen Gaststätte von Criewen noch Plätze frei. Auch der überdimensionierte Parkplatz am Ortseingang bleibt leer. Criewen, einst Fischerdorf an der Oder und heute Sitz des Besucherzentrums im Nationalpark Unteres Odertal, hat ein Bekanntheitsproblem. Fast jeder hat vom Nationalpark gehört, doch nur wenige waren da.
Auch die Feierlichkeiten zum zehnjährigen Jubiläum werden daran wenig ändern. Im Ranking der 15 brandenburgischen „Großschutzgebiete“ belegt das Biosphärenreservat Spreewald mit zwei Millionen Besuchern Platz eins, gefolgt vom Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin mit einer Million Gäste. Den einzigen Nationalpark in Brandenburg, eine der letzten erhaltenen Flussauenlandschaften Europas, besuchen dagegen nur 250.000 Touristen im Jahr. Die allerwenigsten von ihnen bleiben über Nacht, auch wenn es in der „Linde“ in Criewen bei Schwedt inzwischen ein paar Gästezimmer gibt.
Der Ungewöhnliche
„Natürlich war das unbekanntes Terrain“, sagt Dirk Treichel. Bekanntes Terrain, das sind für den neuen Leiter des Nationalparks in Criewen der Bayerische Wald, die Sächsische Schweiz oder das Wattenmeer in Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen. Bekannt deswegen, weil die strengen Auflagen eines Nationalparks dort kein Problem sind. „Es ist ungemein leichter, in den Bergen oder im Wattenmeer 50 Prozent der Fläche als Totalreservat auszuweisen“, sagt Treichel. „Das Untere Odertal dagegen ist die erste Flussaue in Deutschland, die zum Nationalpark wurde.“
Die internationalen Bestimmungen, denen zufolge mindestens die Hälfte der Fläche eines Nationalparks Wildnis werden muss, sind im Unteren Odertal deswegen so schwer umzusetzen, weil die vier Kilometer breite Flussaue zwischen Oder und Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße nicht nur Überflutungsgebiet ist. Im Frühjahr, wenn die so genannten Einlassbauwerke geschlossen und die Pumpen der Schöpfwerke angeworfen werden, dann wird aus dem Schwemmland Weidefläche. Dann müssen sich die Ornithologen und die Angler, die Radfahrer und Wanderer, die Störche und Wachtelkönige die Wiesen mit Schafen und Kühen teilen. Naturschutz contra Landwirtschaft heißt das Stück, das deshalb in der Uckermark seit zehn Jahren auf dem Spielplan steht.
Bislang haben die Landwirte die Nase vorn. Erst 1.350 der 10.600 Hektar des Nationalparks sind als Totalreservat ausgewiesen. Dirk Treichel ist dennoch optimistisch. „Am Anfang wollte man die Totalreservate mit Biegen und Brechen durchsetzen. Das hat nicht funktioniert. Nun sind wir realistischer geworden. Naturschützer und Landwirte müssen miteinander reden.“ Auch das ist, zumindest im Unteren Odertal, ungewöhnliches Terrain.
Der Verspätete
Am 8. September 1995 wurde der Nationalpark Unteres Odertal mit großem Pomp und Getöse eröffnet. Zuvor hatte der damalige brandenburgische Umweltminister Matthias Platzeck (SPD) das Nationalparkgesetz im Potsdamer Landtag durchgeboxt – auch gegen die Widerstände in der eigenen Partei.
Optimistisch waren Platzeck und die Naturschützer damals in der Tat. Bis 2010, so stand es im Nationalparkgesetz, sollte das ambitionierte Ziel mit der magischen Zahl 50 erreicht und aus Weideland wieder Natur werden. Doch die Rechnung war ohne die Landwirte gemacht. Als zwei Jahre später im „Pflege- und Entwicklungsplan“ die Ansiedlung von Elchen im Nationalpark vorgeschlagen wurde, war das Fass voll: Die Bauern machten mobil. „Elchpapier sorgt für Sturm im Unteren Odertal“, hieß es in der Uckermärker Presse, die auch im fernen Potsdam aufmerksam verfolgt wurde.
Der Ungeliebte
Zehn Jahre später ist deshalb weniger den Naturschützern, sondern vielmehr den Bauern zum Feiern zumute. Die Novellierung des Nationalparkgesetzes, wie Matthias Platzeck, inzwischen Ministerpräsident, den Rollback in seiner Politik schönredet, ist in vollem Gange. Naturschutz gilt nun auch in Brandenburg als Investitionshindernis.
„Die Zielmarke 2010 werden wir für die Ausweisung der Totalreservate aus dem Gesetz streichen müssen“, räumt Brandenburgs Umweltstaatssekretär Dietmar Schulze (SPD) inzwischen ein. „Entweder wir verlängern die Frist oder verzichten ganz auf ein Datum.“
Für den „Verein der Freunde des Nationalparks“, der für 29 Millionen Euro zumeist Bundesmittel Flächen im Unteren Odertal kaufen sollte, ist das ein „eklatanter Etikettenschwindel“. Auch wenn „zehn Jahre Nationalpark ein Grund zur Freude sind“, sagt Vereinschef Thomas Berg, „heißt es heute: Hände weg vom Nationalpark!“
In Potsdam heißt es dagegen: Hände weg vom Förderverein! Seit 2001 liegt der Flächenankauf durch den Trägerverein auf Eis. Zwar ist ein von Platzeck angestrebter Trägerwechsel juristisch kaum durchsetzbar. Andererseits kann der Förderverein ohne die Hilfe des Landes kein Flurneuordnungsverfahren durchsetzen. Damit bleibt der Nationalpark vorerst, was er auch eigentumsrechtlich ist: ein Flickenteppich.
Der Historische
Würde der brandenburgische Ministerpräsident nicht nur auf seine Zeit als Umweltminister, sondern auch auf die 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückblicken, wüsste er, dass Naturschutz schon immer Überzeugungsträger brauchte. Und er würde erfahren: Das Untere Odertal ist eine Pionierlandschaft des Naturschutzes.
Es war ein Berliner Lehrer namens Roman Schulz, der in seinen Sommerferien an den Oderhängen bei Bellinchen eine weitgehend unbekannte Flora und Fauna entdeckte, darunter die Zwergkirsche und den Backenklee. Schulz machte daraufhin den Eigentümer des Rittergutes Hohen-Lübbichow, den späteren Reichsinnenminister Walter von Keudell, auf die Besonderheit des Gebiets aufmerksam. Mit Erfolg: Am 19. November 1927 wurden die Oderhänge von Bellinchen offiziell zum Naturschutzgebiet erklärt.
Pionierleistungen wie diese hat Hans-Jörg Wilke im Besucherzentrum in Criewen zu einer eindrucksvollen Ausstellung zur Naturschutzgeschichte im Unteren Odertal zusammengetragen. In ihr findet sich auch ein undatierter Zeitungsartikel aus den 90er-Jahren. Seine Schlagzeile: „Der erste Elch kam über die Oder zu uns“.
Der Unbegrenzte
Die Oderhänge von Bellinchen liegen heute in Polen und gehören zum Cedyński Park Krajobrazowy, dem Zehdener Landschaftsschutzpark. Der bildet zusammen mit der Auenlandschaft des Landschaftsschutzparks Unteres Odertal den polnischen Teil des Schutzgebietes.
Worum auf der deutschen Seite noch gekämpft wird, ist zwischen Widuchowa und Stettin längst Wirklichkeit: Das 4 Kilometer breite und 25 Kilometer lange Zwischenoderland ist zur Wildnis geworden. Anders als im deutschen Teil wurden die Einlassbauwerke und Schöpfwerke aus der Kaiserzeit nach 1945 aufgegeben, die 5.000 Hektar große Auenlandschaft wurde sich selbst überlassen. Weidenflächen gibt es hier nicht mehr, dafür Moorwälder und Sumpfniederungen, die man sonst nirgendwo in Europa findet. Darüber hinaus ist die Aue (wie auch auf der deutschen Seite) Rast-, Überwinterungs- und Brutgebiet von zahllosen Wiesen-, Sumpf- und Wasservögeln, darunter auch vom Aussterben bedrohte Arten wie der Schwarzstorch.
Kein Wunder, dass es schon früh die Idee gab, die Schutzgebiete in Deutschland und Polen zu einem „Internationalpark“ zusammenzufassen. Diesem Ziel verpflichtet war auch der langjährige Leiter des deutschen Nationalparks, Romuald Buryn. Geboren in Stettin, studiert in Deutschland, trieb der Biologe die deutsch-polnische Zusammenarbeit voran. Für Brandenburgs Landesregierung spielte das allerdings keine Rolle mehr. Nach einer Neuausschreibung wurde Buryn im Sommer als Nationalparkchef abgesetzt. Die Novellierung des Nationalparkgesetzes, heißt es in Potsdam, sei wichtiger als die Zusammenarbeit mit Polen. Darüber hinaus galt Buryn als konsequenter Naturschützer, sein Nachfolger Treichel sagt von sich selbst: „Ich verstehe beide Seiten: Naturschützer und Landwirte.“
Der Unvollendete
Blickt man von den polnischen Oderhängen über den Kirchturm von Zatoń Dolna hinweg auf den Nationalpark bei Criewen, heißt es im Sommer nur selten: Land unter. Noch ist das Zwischenoderland keine Wildnis, sondern menschengemachte Polderlandschaft, die lediglich sechs Monate im Jahr, von Mitte November bis Mitte Mai, überflutet ist.
Was aber passiert, wenn sich die Naturschützer eines Tages durchsetzen? Wenn nicht nur die Schafe und Rinder von den Weiden verschwinden, sondern auch die Angler und – auch das ist möglich – die Touristen? Schon jetzt hält der Verein der Freunde des Nationalparks das Wegenetz im geplanten Totalreservat des Zwischenoderlands für zu dicht. Sollen die Besucher des Nationalparks dann nur noch bis zum Besucherzentrum und zur „Linde“ in Criewen dürfen, nicht mehr aber auf den Auenpfad, der die meisten der 250.000 Besucher jährlich anzieht?
Für die Landesregierung in Potsdam wäre das eine Horrorvision, die es in jedem Falle zu verhindern gilt. Lieber, heißt es dort hinter vorgehaltener Hand, ein Naturpark mit als ein Nationalpark ohne Touristen. Andererseits wäre eine Aufgabe des Nationalparks auch für einen Umweltwendehals wie Platzeck eine Blamage. Also wird vorerst alles bleiben, wie es ist: die Aue im Sommer eine Weidefläche, der Förderverein ein Eigentümer ohne Macht, Dirk Treichel ein Nationalparkchef ohne Eigentum, die unvollendete Wildnis ohne Hoffnung auf Vollendung.