Das Spiel im Ernst hinbekommen

Die Kunst und ihr Gestus: Tobias Siebert spielte als And The Golden Choir am Donnerstag im Lido

Von Jan Jekal

Die kleine Bühne des Lido sieht heute aus wie der Instrumentenraum eines humanistischen Gymnasiums oder, viel eher, wie der Instrumentenraum eines humanistischen Gymnasiums aussehen sollte; allerhand schöne Wohlklang erzeugende Objekte, häufig aus Holz, stehen beisammen, bereit hochge­hoben und ausprobiert zu werden.

Einige erkennt man – die Djembe, die Marimba, den Schellenkranz, die üblichen Verdächtigen sowieso –, andere lassen sich nur hilflos mit wenig akkuraten Verweisen auf Bekanntes beschreiben: Laute mit Drehgriff, zum Beispiel.

Tobias Siebert betritt die Bühne in einem Kimono mit Flamingo-Muster, das Rotweinglas in der Hand, und stakst durch die beachtliche Menge der Instrumente hindurch zum Mikrofon. Er sieht aus, wie Lars Eidinger aussehen würde, wenn der volleres Haar hätte und eine etwas kräftigere Statur. Das Konzert beginnt, und es beginnt so ernst, dass es schwerfällt, es ernst zu nehmen. Sieberts zittriger Falsettgesang markiert die völlige Hingabe des leidenden Künstlers an die Kunst, das Singen als letzte Rettung vor dem Sinken, und es ist alles so tiefgründig und humorlos. Siebert tapst mit schlanken Schlagstöcken, die wie Hühnerknochen aussehen und wahrscheinlich auch Hühnerknochen sind, so auf einem mir unbekannten Saiteninstrument herum, dass zwei Frauen neben mir vor lauter hochkulturellem Gestus einen Lachkrampf bekommen, der noch schlimmer wird, als Siebert eine Flöte hervorzieht und zum Solo ansetzt.

In meiner Nähe steht aber auch ein junges Paar, das gebannt lauscht und im Takt schwelgt, und die junge Frau sagt mir nach dem Konzert, wie kraftvoll sie die Musik fand und dass sie durch die Linse ihrer Spiegelreflexkamera sehen konnte, wie sehr die Musiker „die Musik gefühlt“ haben. In der Tat sieht man beides im Publikum: Zuschauerinnen, die sich, wie ich, nicht auf das Dargebotene einlassen können und es in erster Linie amüsiert betrachten, und Leute, die die Augen geschlossen halten und in einer quasireligiösen Erfahrung die Klänge in sich aufnehmen.

Ein Zwischenruf hilft

Mir beginnt das Konzert zu gefallen, als ich merke, dass Siebert sich gar nicht so fürchterlich ernst nimmt, wie es zunächst schien. Als ein die Anspannung brechen wollender Witzbold aus dem Publikum her­aus das nächste Lied einzählt––„1, 2, 3, 4!“––, macht Siebert gutmütig den Witz mit und spielt im Scherz die ersten Noten von „Seven Nation Army“ an. Dann ruft ein Bekannter im Publikum: „Tobi!“, und Siebert antwortet: „Klaus!“, und der Bekannte ruft: „Ich heiße Uwe!“, und Siebert sagt: „Klar, Uwe!“.

Jetzt ist die Stimmung gelöst, endlich, und wenn man nun die Ernsthaftigkeit als eine spielerische versteht, als lustvolle und auch spaßige Inszenierung, dann macht sie Freude, und dann möchte man sich nicht über sie lustig machen.

Sieberts Kammerpop ist über weite Strecken gut. Die Crescendi, die er mit seinen vier Mitmusikern und diesem Arsenal an Instrumenten hinbekommt, sind klangliche Erlebnisse. Ein vertracktes Klappern, ein Dröhnen, eine vorsichtig verzerrte Gitarre, verhallter Gesang; Klänge, deren Ursprünge sich nicht immer finden lassen, verbinden sich, überlagern sich, fallen auseinander.

Tobias Siebert benutzt die Instrumente ja nicht nur als Zeichen für Avantgarde-Glaubwürdigkeit, er ist ja wirklich an Klangfarben und ihrer Anordnung interessiert, und seine Ambition steht außer Frage, er strengt sich vielleicht manchmal ein bisschen zu sehr an. Die Musik fliegt ihm zu, wenn er sie nicht verkrampft zu erkämpfen versucht.