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Als das Dagegensein noch lebendig ist

Thorsten Nagelschmidt fiktionalisiert in „Der Abfall der Herzen“ seine Vergangenheit

Den Romanfiguren bleibt die Mumifizierung erspart

Von Christian Jakob

„Kaufen, erblinden, vergessen, sterben“: So klang Thorsten Nagelschmidt, als er Sänger der Punkband Muff Potter war. Am 5. Juni 1999 spielte die in einer Turnhalle in einer niedersächsischen Kleinstadt ein Konzert, das der Autor dieser Zeilen veranstaltete. Dieser Abend ist eine der beiden Schlüsselszenen von „Der Abfall der Herzen“, einem großen Roman, den Nagelschmidt heute, 19 Jahre später, jenem Sommer widmet, nach dem alles anders war.

„Der Abfall der Herzen“ blickt auf diese Zeit nicht mit dem Wunsch nach Therapie durch Aufarbeitung zurück; auch nicht mit Wehmut oder Erleichterung, sie überstanden zu haben. Nagelschmidt ist besessen von der Rekonstruktion einer Phase seines Lebens, die viele vergessen, abschütteln oder wie eine erkannte Verirrung hinter sich zu lassen versuchen. Die Obsession gründet nicht in dem, was daran auf den ersten Blick am ehesten romantauglich scheint: Der Status, den Muff Potter in der deutschen Punkszene hatten, ist nur als blasser Beiklang der Geschichte verwoben. Der Roman erzählt von der Faszination des Erinnerns an sich.

Er handelt vom Verlassenwerden, von der Klaustrophobie der Kleinstadt, vom Brechreiz, den die Vorstellung auf das ganz normale Leben bei manchen Jugendlichen auslöst, ohne dass sie die geringste Vorstellung davon hätten, was genau denn besser sein könnte. Wahrlich kein besonderes Sujet. Aber das Große steckt immer auch im Kleinen, und Nagelschmidt ist im Stande, es dort zu zeigen. Heute lebt er als Autor in Berlin-Neukölln.

Seine Verachtung für das, was denen blüht, die sich dem Gang der Dinge nicht verweigern, breitete Nagelschmidt in seinem letzten Roman „Was kostet die Welt“ aus. Unvergesslich schildert er darin seine Fantasien über die nervenzerfetzende Spießerhölle eines jungen Lehrerpärchens, dem er in einem Moseldorf begegnet. Den Figuren, die „Der Abfall der Herzen“ bevölkern, bleibt diese Mumifizierung erspart: Nagelschmidt zeichnet sie vor allem in der Phase, in der ihr Dagegensein noch lebendig ist.

Nagelschmidt versucht, seine Erinnerung mit dem abzugleichen, was er über die eigene Vergangenheit noch zu fassen kriegt: Tagebücher, aber vor allem die Erinnerungen der anderen, die er in einem monatelangen Interviewmarathon befragt: Bandkollegen, ExfreundInnen, Konzertveranstalter. An den fast zwei Jahrzehnte gealterten Figuren seines Romans, die er dabei trifft, interessiert ihn befreienderweise nicht, für oder gegen was sie sich in der Zwischenzeit entschieden haben. Die Geschichte der bürgerlichen Erstarrung wurde schon zu oft erzählt. Nagelschmidt will von ihnen nichts weiter wissen, als was sie zum Bild der Vergangenheit beizutragen haben. Denn nur das verbindet sie heute noch.

Es ist ein eitles Projekt. Aber Nagelschmidt strickt daraus einen beeindruckenden Rundgang durch das Museum, das jeder in den Köpfen anderer hat. Nur, dass fast niemand sich je die Mühe macht, systematisch so viele Räume davon zu betreten und dabei Protokoll zu führen. Doch obwohl, und das ist die Pointe, Nagelschmidt so genau wie möglich zu rekonstruieren versucht, was geschah, kann alles doch nur in einer Fiktion münden.

Die Geschichte könnte überall in der westdeutschen Provinz spielen. Das Jahr aber ist nicht egal. 1999 ist der Vorabend von Umbrüchen, die aufscheinen, aber außerhalb der großen Städte noch nicht greifbar sind. Nagelschmidt durchschreitet diese „Zwischenzeit“ auf 450 Seiten. Und er tut es so, dass man ihm dabei auch noch 450 weitere Seiten folgen würde.

Thorsten Nagelschmidt: „Der Abfall der Herzen“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, 448 S., 22 Euro

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