: Missverständnis am Boulevard
Peter Lohmeyer steht in John Osbornes „Der Entertainer“ unter anderem mit einem Hologrammvon Harald Juhnke auf der Bühne. Ein „Abrissabend“ im Theater am Kurfürstendamm
Von Esther Slevogt
Die Ku’dammbühnen trifft es wirklich hart. Nicht nur, dass die geschichtsträchtigen Theater im Sommer nach über zehnjährigem Kampf gegen Investoren und Heuschrecken tatsächlich abgerissen werden: Jetzt hält hier auch noch ein zutiefst unsympathischer Grantler die Bühne des größeren der beiden Häuser, des „Theaters am Kurfürstendamm“, besetzt und teilt ressentimentgeladen gegen Schwule, Nichtdeutschsprechende, Frauen und Flüchtlinge aus. Es werden rassistische und sexistische Witze erzählt, die selbst Freunden des unterirdischsten Stammtischhumors die Schamesröte ins Gesicht treiben würden.
In diesem Ton wird auch gegen die Investoren gewettert, die nach vollzogener Zerstörungsarbeit am Ku’damm eine „russische Spielhölle“ planen. Es geht gegen zeitgenössisches Theater, das heute angeblich nur noch von schreienden Nackten bestritten wird, während man sich hier nun an einem Ort befinden soll, wo fast hundert Jahre lang volkstümliche Kunst gemacht worden ist. Nun liege dieses Theater im Sterben.
Eine verkrachte Existenz
Der Typ, der hier im Schlafrock das Publikum mit seinem schlechten Geschmack traktiert, heißt Archie Rice und ist ein alter Entertainer, eine verkrachte Existenz ohne Zukunft. Seine Familie hat er schon verloren, sich selbst schon lange zuvor. Erdacht hat diese berühmte Figur der Dramatiker John Osborne im Jahr 1957, und Archie Rice ist ein Verwandter von Arthur Millers sterbendem Handlungsreisenden. Das Besondere an Osbornes auch mehrfach verfilmtem Stück ist, dass es seine Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Revue transportiert, weshalb dieser Stoff schon immer tolles Material für Ausnahmeschauspieler vom Kaliber eines Laurence Olivier oder Harald Juhnke war. Jetzt haben wir es mit Peter Lohmeyer zu tun, bekannt aus Filmen wie „Das Wunder von Bern“ von Sönke Wortmann. Zum Glück kann Lohmeyer wenigstens leidlich singen. Doch dies ist schon das Beste, was sich über diesen Abend sagen lässt.
Denn wir haben es nicht nur mit Lohmeyer, sondern auch mit einer sogenannten Abriss-Fassung des Stückes zu tun, welche die Berliner Produktionsfirma „Santinis“ und der Regisseur des Abends, Fabian Gerhardt, verantwortet haben. Sie wollten das Stück, das in einem abgewrackten Revuetheater spielt, auf die fatale Lage der Ku’dammbühnen in ihrer letzten „Abrissspielzeit“ zuschneiden. Dabei haben sie das Stück gleich mitabgerissen.
Von den vielen Missverständnissen, an denen der Abend krankt, ist das größte, dass Boulevardtheater volkstümlich ist, worunter die Macher offenbar Derb-, Dumm- und Reaktionärsein verstehen. Dabei war Boulevardtheater schon immer ein großstädtisches, weltgewandtes und von szenischer wie dramaturgischer Eleganz geprägtes Unterhaltungsformat, mit dem das Theater am Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Konkurrenz des internationalen Kinos reagierte. Nicht von ungefähr wurden die beiden Ku’dammtheater auf der Straße gegründet, auf der sich damals die meisten Kinos Berlins befanden, damals auch aufstrebendes Zentrum des internationalen Films. Hier nun waren Leinwandstars in intimem wie elegantem Ambiente leibhaftig zu erleben.
In der Komödie am Kurfürstendamm führt aktuell eine kleine wie feine Fotoausstellung aus Beständen der Stiftung Stadtarchiv noch einmal durch die fast 100-jährige Geschichte der beiden Bühnen, an der nicht nur Regisseure von Max Reinhardt über Erwin Piscator, Peter Zadek bis Katharina Thalbach, sondern auch bissige politische Entertainer wie Wolfgang Neuss ihre künstlerische Heimat hatten. Wenn man die Ausstellung durchstreift, zerreißt einem das Herz, dass dieser verwunschene Ort in ein paar Wochen zerstört werden wird.
Von der Sensation, Medienstars live auf der Bühne erleben zu können, haben die Ku’dammbühnen auch im Fernsehzeitalter gelebt. Doch vom Geist gut gemachten Boulevardtheaters findet sich nichts in dieser Produktion wieder, die auch technisch mit großer Ambition antritt. Denn es gibt neben den live in Erscheinung tretenden Akteur*innen Lohmeyer, Johanna Griebel (als Archies Tochter) und einer Pianistin (Misha Cvijovic) andere, die nur als Hologramme erscheinen: Archies Vater (Werner Rehm), Archies Frau (Anke Engelke) und sein Sohn (Nicolas Lehni).
Doch kann die Regie mit dieser Idee gar nichts anfangen. Leibhaftige Darsteller und hologrammierte treten nie wirklich in ein Spannungsverhältnis, in dem diese Technik Sinn machen würde, deren Einsatz dramaturgisch und auch sonst nicht überzeugend beherrscht wird. In flüchtigen Momenten kehrt mit Harald Juhnke kurz auch einer der größten Stars dieser Bühnen als Hologramm zurück. „Ach, das Gespenst!“, kanzelt Archie diese Ausnahmeerscheinung dann abfällig ab – und Juhnke muss wieder verschwinden. Was für ein Jammer!
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