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Die Freiheit nehm ich mir

Die Zahl derer, die beim Essen auf bestimmte Inhaltsstoffe verzichten, steigt kontinuierlich. Unter dem weit gespannten Dach „Frei von“ entwickelt sich eine neue Vertriebskategorie

Von Sophie Schrader

Es wir gegessen, was auf den Tisch kommt?! – Das war einmal. Zunehmend wird schon im Vorfeld klargestellt, was nicht auf den Tisch kommt. Und das ist keine bloße Geschmacksfrage. Die Sensibilisierung für Nahrungsmittelfragen wächst, immer mehr Menschen sind überzeugt, dass Unverträglichkeiten ihre Ernährung einschränken.

Bei einer Laktoseintoleranz beispielsweise fehlt den Betroffenen Laktase, ein Enzym, das Milchzucker aufspaltet. Ohne dieses Enzym kann man keine Milch verdauen, und Beschwerden treten auf. In Deutschland sind geschätzte 15 Prozent der Bevölkerung betroffen, was global betrachtet wenig ist. 75 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung sind laktoseintolerant. Ursprünglich diente Laktase nur Säuglingen beim Verdauen der Muttermilch. Im natürlichen Wachstumsprozess ging die Fähigkeit üblicherweise verloren. Dank intensiver Milchwirtschaft vor mehr als 7.000 Jahren hält sich eine Genmutation in Europa, wodurch einem Großteil der europäischen Bevölkerung das Enzym Laktase auch im hohem Alter noch erhalten bleibt. Trotz des geringen Anteils von Laktoseintoleranz in der Bevölkerung wächst der Markt von laktosefreien Lebensmitteln seit Jahren stark an. Seit 2007 hat sich der Verkauf von Produkten um 300 Prozent gesteigert. Von den Käufern haben laut einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) 80 Prozent aber keine Unverträglichkeit.

Ähnlich lässt es sich bei glutenhaltigen Nahrungsmitteln beobachten. Bei Zöliakie, der chronischen Entzündung der Dünndarmschleimhaut durch eine Übersensibilisierung gegen Klebeeiweiß, bedarf es einer strengen Glutendiät. Und die ist angesagt: Obwohl nur 3 von 1.000 Menschen in Deutschland mit dem Krankheitsbild leben, boomt der Markt für solche Produkte. 117 Millionen Euro wurden 2015 mit glutenfreien Lebensmitteln umgesetzt.

Die Sensibilisierung bewirkt aber auch Entwicklungen außerhalb des Supermarkts. Beispielsweise ist die Anzahl der Zöliakie-Betroffenen in Deutschland mit 9 von 1.000 Personen auffällig klein im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Experten gehen daher von einer hohen Dunkelziffer aus. Trotz niedriger Vergleichswerte steigen die Diagnosen von Zöliakie in Deutschland. Mit wachsender Aufmerksamkeit der Krankheit gegenüber steigen die Befunde: Wird gezielt nach einer bestimmten Krankheit gesucht, diagnostiziert man sie auch häufiger.

Nicht ganz ohne

Aroma kann chemisch hergestellt sein. „Natürliches Aroma“ wiederum bedeutet nicht zwangsläufig, dass dieses aus den Inhaltsstoffen des Produktes stammt. Es wird lediglich aus natürlichen Stoffen gewonnen wie Pilzen oder Hefen. „Natürliches Fruchtaroma“ kommt hingegen zu 95 Prozent aus dem Inhaltsstoff. Ohne Konservierungsmittel: Klassische Konservierungsmittel sind nicht mehr enthalten; Antioxidationsmittel oder Säuerungsmittel vielleicht schon. Ohne Farbstoff: bezieht sich nur auf künstliche Farbstoffe. Gefärbt sein kann das Produkt etwa mit Rotem-Bete-Saft oder Karottenextrakt. Auch zu Pulver verarbeitetes Obst oder Gemüse kann für mehr Farbe im Essen sorgen. Da sie nicht als Farbstoffe zählen, müssen in der Zutatenliste keine E-Nummern angegeben werden. Ohne Geschmacksverstärker: Gemeint sind damit Zusatzstoffe mit den Klassennamen „Geschmacksverstärker“ wie Glutamat (E-Nummern 620 bis 625). Verstärkt wird Geschmack trotzdem – mit Hefeextrakt oder Würze, die von Natur aus Glutamat enthalten. In diesem Falle muss das Glutamat nicht in der Zutatenliste erwähnt werden. Ohne Zuckerzusatz: Das Produkt an sich kann viel Zucker enthalten (bloß keinen Zusatz). „Weniger Zucker“ oder „zuckerreduziert“ heißt: 30 Prozent weniger Zucker als in Vergleichsprodukten. „Ungesüßt“ meint: Weder Zucker noch süßende Zusatzlebensmittel noch Süßungsmittel sind drin.

Gluten oder Laktose hat durch gesteigerte Aufmerksamkeit und gezieltes Marketing einen schlechten Ruf, ähnlich wie Zucker oder Kohlenhydrate. Ernährungswissenschaftler machen aber deutlich: Wer keine Unverträglichkeiten hat, für den sind die speziellen und meist teureren Lebensmittel überflüssig.

Über Unverträglichkeiten hin­aus ist eine Ernährung ohne bestimmte Inhaltsstoffe Teil eines bestimmten Lifestyles. Der wird von Bloggern und Prominenten in sozialen Netzwerken vorgelebt. Man meint, der Verzicht auf Gluten oder Laktose ist besonders gesund und hilfreich zur Gewichtsabnahme. Die Produkte sind massentauglich. Eine wissenschaftliche Evidenz über faktische Vorteile einer prophylaktischen gluten- oder laktosefreien Ernährung gibt es hingegen bisher nicht.

Aus gut gemeinten Absichten wird zu Lebensmitteln gegriffen, die vermeintlich gesünder sind. Die Unwissenheit in Ernährungsfragen und den Trend hin zu speziellen Lebensmitteln macht sich das Produktmarketing zunutze. Es wird deklariert, auch wenn die Deklaration nicht notwendig ist. Beispielsweise ist Hartkäse durch den Reifungsprozess von Natur aus laktosefrei. Ein Laktosefrei-Stempel auf Parmesan macht da wenig Sinn. Verkauft wird er trotzdem, für mitunter den doppelten Preis.

Gleiches gilt für Lebensmittel, denen höchst mögliche Naturbelassenheit bescheinigt wird. Man vermarktet Produkte als sauber und frei von vermeintlich schädlichen und künstlichen Inhaltsstoffen aus den Chemielabors der Industrie. Unter dem Dach „frei-von“ werden Verbrauchern ganze Produktreihen vermeintlicher „cleaner“ Produkte angepriesen. Erkennen kann man sie leicht. Sogenannte clean-labels, die das Fehlen von unpopulären Inhaltsstoffen als Stempel oder Etiketten zeigen sollen, verstärken den Eindruck vom gesunden und natürlichen Produkt. Aber wie „clean“ sind diese Lebensmittel wirklich?

Schein & Sein

Döner Kebab: Neben Fleisch sind bis zu 60 Prozent Hack vom Rind und Schaf üblich. Bei Huhn wird darauf verzichtet, der Hautanteil liegt hier bei etwa 18 Prozent. Schwarze Oliven: häufig schwarz gefärbte grüne Oliven, müssen in der Gastronomie gekennzeichnet werden, im Supermarktregal nicht. Imkerhonig: kann aus Bienenstöcken aus aller Welt stammen, den der Imkerbetrieb lediglich abfüllt. Näheres zur Herkunft im Kleingedruckten. Kalbsleberwurst: darf so heißen, wenn mehr als 50 Prozent Kalbsleber oder Leber vom Jungrind enthalten sind. Ist weniger oder gar keins enthalten, muss es „Kalbfleisch-Leberwurst“ lauten. Schweinefleischanteile in der Wurst sind gängig. Körnerbrot: muss kein Vollkornmehl enthalten. Körner können der Dekoration dienen und mit hellem Mehl gebacken werden. Vollkornbrote hingegen müssen mit Vollkornmehl gebacken werden. Unbehandelte Zitrusfrüchte: Die Frucht bleibt nach der Ernte unbehandelt. Die Verwendung von Pflanzenschutz- oder Düngemitteln vor der Ernte ist damit nicht ausgeschlossen. Zahnpflegekaugummi: kann man als kosmetisches Mittel verkaufen, wenn der Zweck des Kaugummis die Mundhygiene ist. Der Vorteil für den Hersteller: Das Produkt unterliegt nicht mehr dem Lebensmittelrecht. Gleiches gilt für Werbeaussagen, besondere Gesundheitsversprechen sind nun erlaubt.

Der Spielraum in der Formulierung von Etiketten auf Lebensmitteln ist groß, und die Industrie nutzt ihn. Durch eine Verzichtserklärung von Geschmacksverstärkern, künstlichen Aromen oder Konservierungsstoffen sind die Lebensmittel jedoch bei weitem nicht so „clean“, wie es auf den ersten Blick scheint. Oftmals wird ein Stoff schlicht ergänzt und Unbeliebtes mit weniger Unpopulärem ausgetauscht. Aus Glu­ta­mat wird beispielsweise Hefeextrakt, der von Natur aus Glutamat enthält. Glutamat ist schlecht, Hefe kennt man von Oma, die Rechnung geht damit auf. Bei einem Produkt „ohne Farbstoffe“ sind zwar keine künstlichen Farbstoffe aus dem Labor verarbeitet. Gefärbt ist oftmals trotzdem, mit natürlichen Ersatzstoffen wie Karottenkonzentrat, Roter Bete oder Spinat.

Bei Aromastoffen sieht es ähnlich aus. Ein Wirrwarr von Formulierungen, die den Verzicht von Künstlichkeit und Chemie suggerieren. „Die Aufwertung von Lebensmitteln durch Clean Labels ist ein geschicktes, jedoch hinsichtlich der Produktqualität überflüssiges Marketinginstrument“, so die Verbraucherzentralen der Länder. Oftmals lohnt es sich, genauer hinzuschauen.

Eine Qualitätsverbesserung durch Verzicht von bestimmten Zusatzstoffen ist kaum erkennbar. Und ein Gesundheitsvorteil ebenso nicht. Mehr Schein als Sein, auf den Verbraucher oftmals draufzahlen.

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