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Orlok oder die Angst vor Fremden

Die Kunsthalle Osnabrück widmet sich dem Schaffen des manischen Zeichners Andrea Mastrovito. Im Zentrum der Ausstellung: sein handgemachter Schwarz-Weiß-Zeichentrickfilm „NYsferatu“

Analog remastered wird Nosferatu zu NYsferatu Foto: Zeichnung: Andrea Mastrovito/Kunsthalle Osnabrück

Von Wilfried Hippen

Der Vampir Orlok aus dem Stummfilm „Nosferatu – eine Symphonie des Grauens“ schleppt seinen Sarg über den menschenleeren Times Square von New York City. Später verwandelt sich sein bedrohlicher Schatten mit den Krallenhänden in das berühmte Bild von den Trümmern des World Trade Center – dank des Eingriffs von Andrea Mastrovito.

Dem 1979 in Bergamo geborenen Künstler bereitet die Kunsthalle Osnabrück die erste Solo-Ausstellung in Deutschland, bei der er sich als ein Meister darin präsentiert, Bilder, Mythen, Kunstwerke und Texte, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, so zusammenzuführen, dass sie einen neuen, oft ironischen und subversiven Sinn ergeben. Sein Opus Magnum ist der Zeichentrickfilm „Nysferatu“. Mit dem holt er Friedrich Wilhelm Murnaus Meisterwerk vom Vampir, der aus Transsilvanien nach Deutschland reist, ins 21. Jahrhundert: Bei ihm ist Nosferatu ein Flüchtling aus Syrien, und er läuft auf seinem Schiff voller Toter im Hafen von Manhattan ein. Mastrovito nutzt den Vampir als Metapher für die Angst vor dem Fremden. Die manifestiert sich für ihn dadurch, dass die Menschen im Westen sich durch jene bedroht fühlen, die aus dem Osten kommen – so wie er selbst durch seinen Umzug in die USA.

In seinem Film geht er mit der Umdeutung nicht so weit, dass sein Nosferatu eine positive Figur würde: Grundsätzlich folgt er der Dramaturgie der Vorlage, und erzählt mit ihr davon, wie das Verderben sich in der Welt verbreitet. Dafür hat er die meisten Szenen aus Murnaus Film Bild für Bild nachgezeichnet. 35.000 Einzelzeichnungen haben er und sein Team von zwölf Künstlern in drei Jahren mit Bleistiften dafür gestaltet: radikal analog.

So ist er zwar einerseits erstaunlich werktreu, nimmt sich aber andererseits die größten Freiheiten heraus, indem er die Hintergründe und damit den Kontext verändert. Das ist auch durch die vielen Anachronismen reizvoll: So reitet Murnaus tragischer Held Hutter auf einem amerikanischen Highway und durch die Fenster der altdeutschen Häuser kann man die Skyline von Manhattan sehen.

NYsferatu quillt geradezu über von kulturellen und politischen Bezügen sowie einfallsreichen Bildfindungen. So bricht hier bei einer Finanzkrise die Wallstreet wirklich zusammen, und das Schlussbild hat seine pessimistische Pointe aus dem Film „Planet der Affen“ geklaut.

Mastrovito hat „NYsferatu“ vergangenes Jahr fertiggestellt und an verschiedenen Orten in New York aufführen lassen. In Deutschland wird er in der Osnabrücker Ausstellung „Symphonie eines Jahrhunderts“ erstmals gezeigt – in einer Installation: Statt auf eine Leinwand wird der Film auf eine Fläche projiziert, die der Vorderschnitt von 5.000 Büchern bildet, die aufgeschichtet wurden. Sie stammen aus der Stadtbibliothek: Für die Auswahl der Bücher wurden OsnabrückerInnen befragt, welche Themen ihnen Angst machen. Wenn man nun diese Mauer von hinten betrachtet, kann man an den Titeln auf den Buchrücken so etwas wie eine kollektive Gemütslage ablesen. Dass dabei neben Bänden über Krankheit, Krieg und Armut auch eine Biografie von Peter Maffay ausgewählt wurde, ist ganz im Sinne von Mastrovito, dessen Arbeiten auch immer einen ganz eigenen Witz haben.

So besteht sein Werk „Shining“ von 2008 aus 182.000 A4-Papierbögen, auf denen mit Bleistift ein Poster von Stanley Kubricks Horrorfilm nachgezeichnet wurde, ein Blatt pro Einzelbild des Films. Für „Frankenstein oder der Moderne Prometheus“ hat Mastrovito in neun Bilderrahmen Seiten aus verschiedenen Ausgaben von Mary Shelleys Roman zusammengefügt. Diese sind zwar ordentlich von der ersten bis zur letzten Seite nummeriert, doch wenn man die Erzählung so läse, gäbe es Wiederholungen, Sprünge und viele Leerstellen: Wie Frankenstein die Körper von Leichen seziert, die Teile zu einem neuen Menschen zusammenflickt und diesen zum Leben erweckt, hat Mastrovito die Bücher zerschnitten und aus den Seiten ein neues Werk geschaffen.

Bücher, die Osnabrückern Angst einjagen? Neben Bänden über Krankheit, Krieg und Not findet sich auch eine Biografie von Peter Maffay

Zwei größere Arbeiten hat Mastrovito speziell für die Osnabrücker Ausstellung entworfen. Für beide musste viel gezeichnet werden, sodass er sich Hilfe bei einigen SchülerInnen und Studierenden der Stadt suchte. Diese zeichneten etwa mit ihm zusammen direkt auf Hunderten von halbtransparenten Plastiklinealen, mit denen eine 18 Meter lange Fensterfront beklebt wurde, einen Bilderzyklus mit dem Titel „Die Melancholie des Unsichtbaren Mannes“. Die Lineale, auf Englisch „ruler“, also Gesetzgeber, symbolisieren dabei für ihn den vergeblichen Versuch, mit menschlicher Vernunft der Welt Herr zu werden.

Noch monumentaler ist Mastrovitos „Symphonie eines Jahrhunderts“, die aus 400 Zeichnungen auf Objekten besteht. Die füllen die Wände eines ganzen Seitenschiffs der ehemaligen Dominikanerkirche, die heute als Kunsthalle dient. Mastrovito will hier die Geschichte des 21. Jahrhunderts erzählen und zwar anhand von gefundenen Objekten, die er so überzeichnet, dass sie sich überlagern. Der Zeitstrahl beginnt mit Bildern vom 11. September 2001 und endet mit einem Artikel über Harvey Weinstein aus einer amerikanischen Zeitung.

Mastrovito arbeitet hier mit Filmpostern, Schallplatten, Büchern, Fotografien und alltäglichen Gegenständen, die er so zusammenfügt, dass sie sich überlappen. Die verdeckten und daher unsichtbaren Teile zeichnet er dann jedoch auf die darüberliegenden Objekte. Das hat eine zugleich surrealistische und spielerische Wirkung, die alle Werke von Mastrovito eignet: Er zeichnet zwar Bilder von den Schrecken unserer Zeit, aber diese erweisen sich in seinen Zeichnungen oft als erschreckend unterhaltsam.

Andrea Mastrovito: Symphonie eines Jahrhunderts, Kunsthalle Osnabrück, Hasemauer 1, Mi–Fr. 11-18 Uhr, Sa/So 10-18 Uhr, Di. 13-18 Uhr. Bis 2. 4.

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