ZEIT.ORTE

Fast vergessen: Goethe

Markus Liske(*1967) lebt als Schriftsteller in Berlin, wenn er sich nicht gerade auf Lesereise oder Tournee mit der Band Der Singende Tresen befindet. Nach meh­reren Bänden mit satirischen Kurztexten veröf­fent­lichte er mit Manja Präkels 2011 die literarische Anthologie „Kaltland“, 2014 das Erich-Mühsam-Lesebuch „Das seid ihr Hunde wert!“ und 2015 die Essaysammlung „Vorsicht Volk!“. Im Verbrecher Verlag erschien zuletzt sein erster Roman „Glücksschweine“.

Markus Liske

Nach und nach hatte man Goethe einfach vergessen. Komplett vergessen. So hat er es mir jedenfalls erzählt. Aber Goethe hat manchmal auch richtigen Quatsch erzählt. So behauptete er steif und fest, er habe bei Bloch und Adorno Philosophie studiert, und das war ganz bestimmt gelogen. Sicher, gelesen hatte er das entsprechende Zeug wohl, zumindest konnte er jeden damit an die Wand diskutieren, wenn ihm danach war. Aber um tatsächlich in den Vorlesungen der Herren gesessen zu haben, hätte er erheblich älter sein müssen. Nicht, dass ich sicher sagen könnte, wie alt er war, als wir uns das erste Mal trafen, doch er sah aus wie Ende dreißig, also ungefähr mein Jahrgang.

Er war ein Schrank von einem Mann, gut aussehend, aber auf eine eher klobige Art. Zu einem Teil lag das wohl an dem dicken Salz-und-Pfeffer-Mantel, ohne den man ihn nie zu Gesicht bekam. Dazu dieses kantige, ernste Gesicht, dieser Klotz von einem Kinn, die buschige, dunkle Mähne und das Nickelbrillchen, das da schief auf der Nase balancierte – massiv wie ein Monolith, so sah er aus. Ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass man diesen Menschen einfach vergessen könnte. Genau das jedoch, sagte er, sei ihm geschehen.

Es fing schon während der Studienzeit an. Irgendwann waren ihm einfach keine Rückmeldungspapiere mehr geschickt worden. Vielleicht hatte man im Immatrikulationsbüro eine neue Software installiert und ein paar Datensätze waren dabei verloren gegangen. Möglicherweise war das ein Problem gewesen, das nicht nur ihn, sondern auch unzählige seiner Kommilitonen betraf. Aber die werden sich dann wohl beschwert haben. Nicht so Goethe. Der wunderte sich nicht einmal, dass die Papiere nicht mehr kamen. Der brütete über seinen Denksystemen und Weltsichten und war davon auch nicht abzulenken. Erst als er eines Tages versuchte, sich zur Abschlussprüfung anzumelden, musste er feststellen, dass das nicht ging. Da hat er dann randaliert. Und das ist bestimmt kein Spaß gewesen.

Ich habe Goethe nur einmal randalieren sehen, aber das hat mir gereicht. In unserer Stammkneipe war das. Dort war eines Tages der Bierpreis um fünfzig Pfennig angehoben worden. Man gehörte mittlerweile zum Sanierungsgebiet, neue Mieten mussten bezahlt werden und vielleicht wollte man sogar ein anderes Publikum anziehen – mehr so Leute wie mich, weniger solche wie Goethe, wer weiß. Jedenfalls kam es zum Eklat, weil Goethe natürlich das Hinweisschild nicht gelesen hatte, das Geld für seine Biere, wie es seine Gewohnheit war, genau abgezählt in der Tasche trug, und also nicht genug hatte, als die Kellnerin mit der Rechnung kam. Da hat er dann randaliert. Ein paar Tische sind dabei draufgegangen und ein paar Gäste hat’s auch erwischt. Kaum zu glauben, dass so einer glatt vergessen wird.

Wegen der Sache in der Uni damals musste er sogar eine Nacht im Knast verbringen, und ein paar Freunde wandten sich deshalb von ihm ab. Die meisten allerdings, sagte Goethe, hätten ihn einfach im Laufe der Zeit vergessen. Die hätten alle irgendwann ihr Studium beendet, hätten Familien gegründet, Häuser gekauft und seien weggezogen, wie das eben so ist. Goethe sagte immer, sie hätten ihn vergessen, weil er so viel dachte und gerne über so schweres Zeug daherredete, und weil das ja nun niemand brauchen kann, der sich einordnen will, einen Platz einnehmen, Bestandteil sein. Er sei eben kein Bestandteil, meinte Goethe, und werde deshalb auch immer vergessen.

Vielleicht stimmt das, vielleicht lag es auch nur am Telefon. Das haben sie ihm nämlich irgendwann abgestellt. Er sagte mir, die Telefongesellschaft habe ihn auch einfach vergessen. Wahrscheinlich hat er aber nur seine Rechnungen nicht bezahlt. Wäre durchaus verständlich. Immerhin lebte er da längst schon vom Sozialamt. Jedenfalls konnte man ihn seither nicht mehr erreichen, und da er sowieso nie jemanden anrief, versunken in seinen Gedanken, wie er stets war, hatten ihn die Freunde mit der Zeit wohl aus den Augen verloren. So läuft das eben.

Schwierig wurde Goethes Leben erst, als ihn sein Vermieter vergaß. Das Haus, in dem er wohnte, stand damals zur Sanierung an. Vermutlich bekam er in dieser Zeit unzählige Schreiben über Umsetzwohnungen, Abfindungen und dergleichen. Und bestimmt hat er die einfach nie aufgemacht. Dann sind die Dinge eben ohne Rücksprache ihren Gang gegangen. Sein winziges Hochparterrezimmerchen sollte der Nachbarwohnung zugeschlagen werden, und eines Tages – er war gerade auf dem Amt – brach man ihm die Tür auf, warf Matratze, Bücher und Regale auf einen Schutthaufen in den Hinterhof und mauerte die Türöffnung zu, weil die ja nach der Renovierung ohnehin nicht mehr gebraucht würde.

Ob er randalierte, als er nach Hause kam? Ich weiß es nicht. Am Ende ist er jedenfalls durchs Fenster gestiegen, hat Matratze und Bücher durchs Fenster wieder hineingeschafft und stieg auch immer noch durchs Fenster aus und ein, als ich ihn später kennenlernte. Er konnte nämlich tatsächlich dort wohnen bleiben. Nachdem der Hausflur erst mal renoviert und von der zugemauerten Tür nichts mehr zu sehen war, hatten die Arbeiter glatt vergessen, den Wanddurchbruch zur Nebenwohnung zu machen. Aber natürlich zahlte er nun auch keine Miete mehr, konnte deshalb dem Sozialamt keine Mietquittungen mehr vorweisen und ging da also gar nicht erst wieder hin. Dass ihn das Sozialamt dann vergaß, ist ja klar. Ämter erinnern sich immer nur an die, von denen sie Geld zu bekommen haben. Die anderen müssen sich schon selbst kümmern.

Von da an lebte Goethe vergessen und in Ruhe mit seinen Büchern und Gedanken. Er aß das Gemüse, das die Marktverkäufer aussortierten, fischte sich seine Klamotten aus Kleidersäcken und kümmerte sich ansonsten um nichts mehr. Strom und Wasser waren ihm geblieben, weil es sich dabei in den Unterlagen der Hausverwaltung um den Verbrauch der Nachbarwohnung handelte. Nur der Kamin war jetzt zugemauert, weshalb es im Winter manchmal recht kühl bei ihm war.

Woher er das abgezählte Kleingeld für seine Biere nahm, kann ich nicht sagen. Ich glaube nicht, dass er betteln ging. Einem wie ihm hätte bestimmt niemand etwas gegeben. Sicher dieser Salz-und-Pfeffer-Mantel, den er niemals auszog, der war schon recht abgenutzt, aber ansonsten war Goethe keinesfalls unansehnlich. Er hatte nie fettige Haare oder ungeputzte Zähne, kein Alkoholdampf umwaberte ihn, und – wie gesagt – er sah gut aus. Außerdem konnte er ziemlich charmant sein. Hin und wieder begleitete er sogar eine der jungen Studentinnen aus unserer Stammkneipe nach Hause, während ich ein bisschen traurig am Tresen zurückblieb. Ich war zu dieser Zeit längst verheiratet und meine Nadja verstand bei so was keinen Spaß.

Einmal fragte ich ihn, warum er keine Beziehung habe. Er behauptete, es läge daran, dass ihn die Studentinnen meist schon am nächsten Tag wieder vergäßen. Schwer vorstellbar, aber vielleicht kannte ich ihn nicht lang genug, um das beurteilen zu können. Eigentlich waren wir nur einen Sommer befreundet, wenn ich mich recht erinnere. Ich war damals gerade arbeitslos geworden und hing deshalb oft in dieser Kneipe rum. Na ja, auch weil es mit Nadja gerade nicht so gut lief. Nadja war dreißig geworden, ich ging auf die vierzig zu, und Nadja wollte Kinder. Seit einem Jahr schon hatte sie mir damit in den Ohren gelegen, und wie das fast immer endet, wenn Nadja etwas will – irgendwann gab ich nach. Damit war allerdings nicht viel gewonnen. So gut Nadja darin war, mich gefügig zu machen, so wenig Einfluss hatte sie auf die Natur. Was wir auch taten, nichts geschah. Schließlich ließen wir uns testen und – natürlich – die Schuld lag bei mir. Was da stets so lebendig hervorzuschießen schien, war so fruchtbar wie Tapetenkleister. Nadjas Stimmung sank ins Bodenlose. Als dann auch noch die betriebsbedingte Kündigung kam, begann ich, große Teile der neugewonnen Freizeit in diese Kneipe zu verlegen. So lernte ich Goethe kennen.

Einmal pro Woche fand in dem Laden eine offene Bühne statt, und jeder, der einen Beitrag beisteuerte, bekam Freibier. Deshalb stand Goethe an jedem dieser Abende da oben und las die Gedichte vor, die er ununterbrochen mit Bleistiften auf Kneipenblöcke krakelte. Grässlich ambitioniertes Zeug war das, aber er war ein Showtalent. Die Vorreden zu den Texten waren um ein Vielfaches länger als die Texte selbst, und er war witzig dabei. Die Leute lachten Tränen, und manche Studentin konnte es nachher kaum abwarten, an seinem Tisch Platz zu nehmen.

Auch ich setzte mich eines Abends zu ihm, wenn auch aus anderen Gründen. Als frisch gefeuertem Eventmanager auf dem Weg in eine prekäre Selbstständigkeit kam mir ein unentdecktes Talent wie Goethe gerade recht. Bald schon sprachen wir über eine gemeinsame Veranstaltung, hatten sogar Ort und Datum irgendwann festgelegt – da zündete doch noch eine meiner Bewerbungen. Aufstrebende Firma, guter Lohn. Ich sagte zu und steckte schon bald bis über den Kopf in Arbeit. In die Kneipe ging ich nicht mehr.

Ich würde gerne behaupten, dass ich die geplante Show einfach vergessen hätte, aber so war es nicht. Ich sagte den Termin sogar ab. Nein, es war Goethe, den ich vergaß. Der stand am ausgemachten Abend tatsächlich am ausgemachten Ort, behauptete, er hätte hier einen Auftritt und war gar nicht erfreut, als er von meiner Absage erfuhr. Da hat er dann randaliert.

Ich selbst habe Goethe nie wieder gesehen. Es war Nadja, die mir davon berichtete. Nach der Randale war er nämlich direkt zu uns nach Hause gelaufen. Ich aber hatte an jenem Abend ein Arbeitsessen, und als ich spät nachts angetrunken zurückkam, fand ich Nadja sonderbar flattrig und wortkarg vor. Ich war nur froh, dass Goethe nicht bei uns randaliert hatte, und sagte das auch. Nadja schwieg.

Immerhin, mein Arbeitsessen war ein voller Erfolg gewesen. Ich verdiente nun deutlich mehr Geld, und so konnten wir uns endlich auch ein Häuschen an der Stadtgrenze zulegen. Perfektes Timing, denn Nadja war unverhofft doch noch schwanger geworden. An Goethe habe ich nie wieder gedacht. Erst heute fiel er mir wieder ein, als ich hörte, wie Nadja unserem kleinen Johann den „Reineke Fuchs“ vorlas.