: Immer diese Widersprüche
von KLAUS WALTER
Was ist eigentlich aus der Rocklinken geworden? Bei einer der vielen Nachrufpartys für die Ära Rot-Grün wurde eine ehemalige taz-Redakteurin, die heute für eine andere Tageszeitung schreibt, mit feuchten Augen gesehen. „Das wird es in Zukunft nicht mehr geben“, seufzte sie.
„Das“ war eine Jethro-Tull-Coverband, die zum Plaisir der rot-grünen Regierungsgesellschaft aufspielte. Die Rolle des flötenden Ian Anderson hatte der Sohn eines grünen Abgeordneten übernommen. Der richtige Anderson widmet sich auf seinem Landgut der Pferdezucht und ist ein glühender Anhänger von Margret Thatcher. Einer der größten Hits von Jethro Tull war „Living in the past“.
Was ist eigentlich aus der Rocklinken geworden? „Nicotine, Valium, Vicodin, Marijuana, Ecstasy and Alcohol. Cocaine.“ Das ist der vollständige Text des „Feel good hit of the summer“ von den Queens Of The Stone Age. Im Wiesbadener Schlachthof singt die ganze Halle begeistert mit. Bejubelt wird auch die Ankündigung „This song is about LSD“. Es ist einer der letzten heißen Tage, das Wasser läuft in Strömen von den Wänden. Viele Männer haben ihre Hemden ausgezogen. Ein bisschen peinlich ist es schon, aber dann fühle ich mich richtig gut, als ich mir beim Rausgehen das nasse Hemd ausziehe. Durchgerockt von den Queens.
Komisch, das erste Mal ohne Hemd, schließlich habe ich mein erstes Konzert 1970 gesehen. Mit offenen Fenstern fahre ich nach Hause, höre superlaut Pet Shop Boys, was total gut passt nach dem ambisexuellen Queensrock. Vor allem „Try it“. Neil Tennant singt von seiner Affäre mit einem verheirateten Mann, und er tut es so, dass man neidisch wird. Ich jedenfalls, im Auto ohne Hemd. Lange nicht mehr so euphorisch gewesen nach einem Konzert. Sollte mir mal wieder Drogen besorgen.
Am nächsten Morgen habe ich einen Schnupfen. Und muss mich anlässlich dieses Textes daran erinnern, dass auch Fans der Böhsen Onkelz und der Modern Talking koksen, und dass vermutlich sogar Guido Westerwelle schon mal eine Affäre mit einem verheirateten Mann hatte. Diese Banalität hatte ich vergessen in der Euphorie. Wider besseres Wissen hatte ich mich, tja, links gefühlt. Am selben Tag las ich, dass Neil Tennant den Irakkrieg befürwortet. Die Jungle World vermeldet das mit anerkennendem Ton, da halten ja viele den Irakkrieg für irgendwie links, weil deutsche Kriegsgegner antiamerikanisch, also antisemitisch sind. Was ist links? Pet Shop Boys lieben und Widersprüche aushalten?
„Die hedonistische Linke“ war mal ein Buch, das in den Siebzigern in undogmatischen Szenen ziemlich beliebt war. Wann ist die hedonistische Linke eigentlich aus dem Diskurs gefallen? Das müsste in etwa zur selben Zeit passiert sein, als die Parole „Das Private ist das Politische“ in (ex-)linken Kreisen nur noch als lästige Zumutung aus einer Vergangenheit angesehen wurde, der man sich zu entledigen habe. Darauf beharren doch nur noch Tugendwächter und Korrektheitsasketen. Über die zwanghafte Verkopplung von Gesinnung und Lebensstil können die linken Hedonisten der Siebziger nur noch milde lächeln.
Aber sind die linken Hedonisten von damals – nennen wir sie der Einfachheit halber die Besserverdienenden aus den großstädtischen Grünen Milieus, oder mit einem Wort des verblichenen Rudolf Bahro: „alternative Bourgeoisie“ – sind die überhaupt noch links? Oder sind sie nur noch Hedonisten, die den relaxten Umgang mit Drogen und die Durchsetzung der Schwulenehe als die entscheidenden politischen Erfolge ihrer Peer-Group feiern. Sie nennen das „unsere Generation“.
Nein, wenn man nicht gerade von Queensrock, Dehydrierung, Pet Shop Boys und Fahrtwind betäubt ist, dann muss man sehen, dass die hedonistische Linke zerfallen ist: in Hedonisten, die nicht mehr links sind, und Linke, die keine Hedonisten mehr sind (höchstens Luxuslinke).
Die hedonistische Exlinke erhebt für sich den Anspruch „ökologisch, kulturell sowie im Staatsbürgerrecht und in der Einwanderungspolitik dem Land eine überfällige Modernisierung verschafft zu haben“. So formulierte es Martin Altmeyer, gelegentlich Koautor von Daniel Cohn-Bendit, unlängst exemplarisch in der Frankfurter Rundschau. Streicht man die minimalen Fortschritte in Staatsbürgerrecht und Einwanderungspolitik, dann bleibt eine Modernisierung in den weichen Feldern Ökologie und Kultur. Sie ernähren sich gesund, trennen den Müll, goutieren Buena Vista, Grand Prix und Karneval der Kulturen und nennen sich Zivilgesellschaft.
Mit linken Problemen der Gegenwart kommt man den Zivilgesellschaftlern besser nicht. Da ist kein kulturelles Kapital anzuhäufen, kein Glamour abzuschöpfen. So haben sie mit einer gewissen Erleichterung registriert, dass die Umzüge graugesichtiger Ostmänner durch Berlin irgendwann im Sande verliefen. Hatten doch die Proteste gegen Hartz IV so gar nichts vom bunten Treiben moderner Berlin-Demos wie Love Parade und CSD, nichts von „Lebensfreude pur“ (Klaus Wowereit). Mit dieser „unhippen Loser-Bewegung“ (Mathias Greffrath) mochte man sich ungern gemein machen.
Unterschichtenbashing gen Osten ist zum beliebten Gesellschaftsspiel geworden. Wenn Harald Schmidt übers Unterschichtenfernsehen lästert, dann dürfen wir uns auch etwas Herablassung gönnen. Viele Exlinke, die den langen Weg aus der K-Gruppe zu sich selbst gefunden haben, betreiben Unterschichtenbashing als Politikersatz, als späte Rache für die Enttäuschungen, die ihnen das Proletariat einst zugefügt hat, als es nicht in die Rolle der revolutionären Avantgarde schlüpfen wollte.
Aber nicht nur unter Besserverdienenden aus Grünen-Milieus trifft man auf starke Affekte gegen ebenso arbeits- wie stillose Proleten von drüben. Die gibt es auch im stylishen digitalen Neoproletariat, und damit kommen wir zur Ausgangsfrage. Mit schlichten Slogans wie „sozial statt neoliberal“ (WASG) kann linke Politik einer atomisierten Gesellschaft der Differenzen und Vielheiten nicht gerecht werden. Sie kann nicht so tun, als gäbe es in Zeiten transnationaler Ökonomie einen Rückweg zum Fordismus. Sie muss sich den Kreationen des deregulierten Postfordismus stellen und damit seinen allfälligen Ungleichzeitigkeiten. Der Bloch’sche Begriff taugt zur Beschreibung einer markanten Kluft zwischen den Zielgruppen der Linken: hier glamourfreie Anti-Hartz-IV-Demonstranten mit Ostflavour, dort prekarisierte Milieus der postmodernen (Ex-)linken aus den Großstädten der alten BRD. Zwangsflexible Bildschirmarbeiter, Agenturhopper, scheinselbstständige Ego-Profitcenter, mobile Reservearmeen des Kulturbetriebs: massenhafte Einzelfälle der Deregulierung, die keine Assoziation verbindet, die tendenziell jeder Organisation misstrauen.
Schließlich haben sie gelernt, individuelle Qualitäten, Emotion, Kreativität, gerne auch einen gewissen Nonkonformismus in die Waagschale zu werfen. „Originelle Typen und Querdenker stellen gewissermaßen das Glamour-Modell für den Gehorsam gegenüber den Imperativen der Flexibilisierung dar. Nonkonformität wäre somit zu einer Produktivkraft, zu einem Konsumgegenstand und zu einer Ressource der Distinktion verkommen.“ (Klaus Ronneberger)
Diese unorganisierten Neoproleten verarbeiten die ständige Angst vor dem sozialen Absturz mit Routinen kulturalistischer Distinktion. Eine davon ist Unterschichtenbashing, verschärft durch Missgunst auf Seiten der Zwangsflexiblen. Für die ist das ganze Leben ein Casting. Sie müssen viel leisten und leben dennoch in permanenter Unsicherheit. Folglich bringen sie wenig Verständnis auf für schwer Vermittelbare und hoffnungslose Fälle, die vom Staat Sozialleistungen und Sicherheiten einfordern, die ihnen ob ihrer mangelnden Qualifikation und Flexibilität gar nicht mehr zustehen.
Warum sollen wir uns für die den Arsch aufreißen? So entsteht aus den ungleichzeitigen Verwerfungen von Old Economy und Postfordismus, Ost vs. West eine Konkurrenz der Prekarisierten, wo in der schlichten Eigentlichkeit linken Sehnens angebracht wäre: Solidarität! Oder doch Nicotine, Valium, Vicodin, Marijuana, Ecstasy and Alcohol. Cocaine?