: Spätes Echo auf Gorkis „Nachtasyl“
VON PETER LAUDENBACH
Wer sich im Theaterbetrieb erfolgreich positionieren will, muss den Signalwert „links“ nicht ins eigene Markenimage einbauen. Aber es hilft. Thomas Ostermeier, Frank Castorf und Claus Peymann, die Chefs dreier so prominenter wie kampflustiger Berliner Theater, beherrschen diese Kunst. Die Intendanten von Schaubühne, Volksbühne und Berliner Ensemble sind Konkurrenten. Ihre Versuche, politische Überzeugung, Karriere- und Kunstinteressen, Strategien der Systemkritik und des Selbstmarketings miteinander kurzzuschließen, fallen höchst unterschiedlich aus.
Claus Peymanns Berliner Ensemble geht dabei noch recht schlicht vor: Was bei Castorf und Ostermeier nur ein nicht unangenehmer Nebeneffekt der politischen Selbstpositionierung ist, rückt der Intendant des ehemaligen Brechttheaters ins Zentrum: die Werbewirkung. Die kunstvoll geschwungene rote Fahne wird zu wirkungsvollen Element der Corporate Identity. Darin erschöpft sich dann aber auch ihre Wirkung. Die anderen beiden Theater macht ihr Bezug aufs Linke zu anschaulichen Beispielen für die so vielfältigen wie unvermeidlichen Widersprüchlichkeiten linker Selbstpositionierungen im Kulturbetrieb.
„Mich interessieren die psychotischen Resultate dessen, was wir hier leben. Wie groß sind die seelischen Schäden einer Gesellschaft, die ihren Reichtum zum Teil darauf gründet, dass andere zu wesentlich geringeren Löhnen arbeiten?“, sagt Thomas Ostermeier, der künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. So lässt sich ohne Umwege noch ein Nervenzusammenbruch mit der Kritik am Neokolonialismus verbinden.
Der Hang dazu, die menschlichen Katastrophen der Upper-Class auszuleuchten – zuletzt hatte er da mit einer „Nora“-Inszenierung einen großen Erfolg –, hat bei Ostermeier eine Vorgeschichte: Früher waren es die Deklassierten und aus der Wohlstandsgesellschaft Herausgefallenen, die er den Bürgern im Parkett zeigte – ein spätes Echo von Gorkis „Nachtasyl“ in vielen Variationen. Das Feuilleton mochte diese Junkie- und Pennerparade sehr. Das Publikum gruselte sich aufs Schönste, aber größere Scham über die eigenen Privilegien kam selten auf. Die Pointe an dieser Karriere ist, dass man Thomas Ostermeier alles Mögliche, aber kein apolitisch-zynisches Kalkül vorwerfen kann.
Das ist alles ernst gemeint und empfunden: die Wut über die Ungerechtigkeit. Das Mitleiden mit den Verlorenen, die im U-Bahnhof wohnen. Die Verachtung für die Villeninsassen. Auch die Vorstellung, Selbsthass, innere Leere und Verzweiflung in den reichen Ländern und den besser gestellten Kreisen sei eine Art Echo für anderen zugefügtes Unrecht. Die Moral, ein Nullsummenspiel: Wer sich auf Kosten der Armen auf dem Designersofa oder auch nur in der bundesrepublikanischen Wohlstandsinsel räkelt, bekommt zur Strafe irgendwann Krebs, Depressionen oder sozialen Abstieg und Arbeitslosengeld II.
Die Kraft von Ostermeiers Theater hat mit dieser unverstellt naiven Moral zu tun. Dieses Theater weiß genau, wer die Guten, wer die Bösen und wer die Schuldigen sind. Das ist die gelungene Synthese aus Old-School-Linksradikalismus und einer Sinn stiftender Weltinterpretation, in der jedes Leid seine sozial-ökonomische Ursache hat und irgendwann seiner gerechten Strafe zugeführt wird. So einfach, naiv und auf kindliche, also unmittelbare Weise einleuchtend diese Denkmuster sind, so überdeutlich sind in der Regel die Erzählweisen. Und was, wenn es den Villenbewohnern ganz prima ginge? Wenn Ausbeutung und Amoral den Privilegierten keine Depressionen, sondern ein langes, glückliches und rücksichtsloses Leben bescheren? Dann platzt das schöne, moralsatte Welt- und Wunschbild. Was nicht unbedingt gegen die Wünsche spricht. Ostermeier: „Als Beauftragter eines bürgerlichen Kulturinstituts bin ich dafür zuständig, wie eine Art Schamane herauszukriegen, warum es den Leuten seelisch so schlecht geht, indem ich ihnen eine Spiegelung dessen gebe, wie sie leben. Wenn man in der Bundesrepublik Theater macht, stellt sich einfach die Frage, woher rührt das ganze Unglück, woher rührt die Fähigkeit zur Totaldepression?“ Gute Frage.
Genau diese ideologisch gefestigte Selbstgewissheit, das Gefühl, im Vollbesitz der moralischen Wahrheit zu sein, wird an Frank Castorfs Volksbühne systematisch schwersten Irritationen ausgesetzt. Realistischerweise geht dieses Nietzsche-gestählte Theater davon aus, dass Menschen egoistische, rücksichtslose, lüsterne und nur in bescheidenen Grenzen zu Solidarität neigende Wesen sind. Die großen Utopien sind in diesem postideologischem Theater schwer demoliert. Am liebsten werden sie in der kaputten Variante vorgeführt, zum Beispiel wenn in einer von Castorfs Dostojewski-Adaptionen ein Revolutionär darüber nachdenkt, dass man spätestens nach der Revolution alle Überdreißigjährigen erschießen sollte, da sie ohnehin unheilbar vom alten System korrumpiert seien. Aber auch wenn dieses Theater den ideologischen Großmodellen nicht mehr traut, kommt es nicht von ihnen los.
Es muss sich an ihnen abarbeiten, auch um den Preis, dass politisches Denken irgendwann in einen ratlosen Nihilismus oder eine von Dostojewski-Räuschen befeuerte Gottsuche mündet. In einer der besten und traurigsten Castorf-Inszenierungen aller Zeiten, den „Webern“, formuliert ein Mann der Arbeiterbewegung diesen ambivalenten Abschied von den Utopien denkbar depressiv: „Du meinst die großen alten Worte … Streik … Freiheit … Gerechtigkeit …“ Die großen alten Worte sind leer geworden. Aber wo sie einmal für Halt sorgten, tobt jetzt ein Art Phantomschmerz, der leicht in Depression oder in Amokläufe kippen kann. Aus diesen Amokläufen besteht Castorfs Theater. Das ist sehr weit von den üblichen Ironiespielen des Kulturbetriebs entfernt. „Links“ ist Castorfs Theater nicht in den Aussagen, die werden systematisch verwirrt und aller Eindeutigkeit beraubt. „Links“ ist es in der Underdog-Haltung, in der Geste einer selbstbewussten Rotzigkeit, die sich keine Illusionen über die Verhältnisse im Spätkapitalismus macht und sich trotzdem ein gutes Leben machen will.
Vor allem sieht man diesem Theater an, dass es schon einen Systemkollaps hinter sich hat. Nirgends wirken gesellschaftliche Ordnungen so kontingent und jederzeit einsturzgefährdet wie hier. Statt sich über die Katastrophen des Kapitalismus zu empören, ist Schadenfreude angesagt. Hinter dem ausgestellten Zynismus und dem offenkundigen Misstrauen gegen Moralpostulate hat dieses gänzlich antisentimentale Theater eine moralische Grundhaltung, die mit so altmodischen, scheinbar vorpolitischen Dingen wie Mitleid und Mitgefühl zu tun hat.