: Angstfrei
von Michael Walzer
Die Experten sind sich offenbar darin einig: Es lag nicht an der Wertedebatte, dass wir die letzten Präsidentschaftswahlen verloren haben. Nein, entscheidend waren die starken Gefühle der Wähler, vor allem ihre Ängste.
Woran krankt also das Lager der Linken und der Linksliberalen? Sieht man uns tatsächlich als schwache, gleichgültige, wertfreie Opportunisten, die ihr Fähnchen stets nach dem Wind hängen? Und liegt es nur am Erscheinungsbild, an schlechter Publicity – so dass wir nur eine kleine rhetorische Politur, eine Schönheitsoperation, ein leidlich besseres Erscheinungsbild brauchen? Brust raus! Und kein Blatt vor den Mund!
Nein, das ist es nicht. Über die letzten Jahrzehnte hat sich im politischen Leben der USA etwas Wichtiges ereignet: ein grundsätzlicher Perspektivwandel, eine eigenartige Verschränkung linker und rechter Merkmale und Motive. Um das zu verstehen, müssen wir die Rolle der Ideologie bei der heutigen politischen Rechten betrachten. Wir auf der Linken reden uns ein, die Politik der Regierung Bush sei von altmodischen Klasseninteressen und der Profitgier der Unternehmen bestimmt. Doch das ist nur zum Teil richtig. Würde heute tatsächlich die alte herrschende Klasse im marxistischen Sinne herrschen, wäre deren Programm erheblich moderater als das der Regierung Bush.
Gewiss, auch sie steht für ein ausgeprägtes Klasseninteresse, doch in Wahrheit herrscht im rechten Lager querbeet die Ideologie. Sie bietet überaus stimmige, monokausale Analysen der gesellschaftlichen Probleme wie auch radikale Vorschläge zu deren Lösung: immer niedrigere Steuern, eine radikal privatisierte Sozialversicherung, immer mehr Leistungstests in den öffentlichen Schulen, Folter für Terroristen, Krieg gegen Saddam, Demokratie für die Araber. Nach dem Motto: Wird alles ganz wunderbar, nach der Revolution.
Dagegen haben die Intellektuellen auf der Linken ihre Gewissheiten verloren: Wir haben keine allgemeine Theorie mehr, wie sie der Marxismus einst war, die uns erklären würde, wie die Dinge laufen und was zu tun ist. Sind wir also nicht mehr „allgemeine Intellektuelle“, sondern nur noch „Spezialisten“, wie Michel Foucault behauptet hat? Der eine Linksintellektuelle schreibt über Erziehung, der andere über Stadtplanung, der dritte über das Gesundheitswesen, dieser über den Arbeitsmarkt, jener über bürgerliche Freiheitsrechte.
Ist damit unsere Welt beschrieben? Unsere vielleicht schon, aber ihre Welt ganz gewiss nicht. Hier haben sich die Fronten verkehrt, denn ganz entschieden gibt es solche Intellektuellen auf der Rechten. Die Lehre vom freien Markt ist nicht gerade eine welthistorische Theorie, man könnte eher sagen, dass sie eine welt-ahistorische Theorie ist. Aber sie hat eine ungemein große Reichweite: Sie verhilft ihren Anhängern, zu einer Meinung über so gut wie alles.
Merkwürdig ist: Mangels einer Theorie haben wir Linken versucht, uns mit Prinzipien und Werten zu behelfen. Trotz allem, was in der letzten Präsidentschaftskampagne behauptet wurde, ist es in Wahrheit die Linke, deren Politik auf Werten basiert. Die liberalen und linken Intellektuellen und Aktivisten von heute haben einen moralisierenden Ton am Leibe. Die alte, marxistische Linke brauchte keine moralischen Werte, sie hatte die Geschichte. Ihre Intellektuellen und Aktivisten brauchten sich nur zu vergewissern, dass die Lokomotive der Geschichte vorwärts fährt, und sich dann dem erwählten Lokführer, also der Arbeiterklasse zugesellen.
All die Fragen nach Recht und Unrecht, Richtig und Falsch, Gut und Böse, würde man nach der Revolution klären. Für die politische Rechte von heute sind für solche Fragen die Märkte oder der liebe Gott zuständig. Das Gemeinwohl entspringt dem Konkurrenzstreben nach privatem Wohlergehen – wie vom lieben Gott wunderbarerweise verheißen. Auf der Linken dagegen müssen wir alle Fragen selbst beantworten.
Deshalb sind die Argumente, die wir vorbringen, fast immer moralisch: zugunsten der Menschenrechte, gegen die Totalisierung der Ware, für gemeinschaftliche Werte, gegen Profitgier und korrupte Praktiken der Unternehmen, für „Gleichbehandlung“, gegen ungerechte Kriege, für humanitäre Interventionen, gegen die Belastung der Umwelt, zugunsten künftiger Generationen und so fort. Wir können nicht behaupten, dass auch nur eines dieser Argumente das ökonomische Wachstum fördert oder die Modernisierung oder den revolutionären Wandel oder die religiöse Erlösung. Es sind keine welthistorischen Argumente. Und von den Marxisten würden Leute verachtet, die so argumentieren, ohne eine Theorie des sozialen Wandels, ohne eine Analyse der gesellschaftlichen Kräfte. Und doch sind all dies keineswegs Argumente von Spezialisten. Sind wir also nicht doch allgemeine Intellektuelle?
Die letzte Frage führt zu einer, die noch dringlicher ist: Warum erkennen nicht mehr Leute den moralischen Charakter der Linken, und dass ihre politischen Programme von Werten bestimmt sind? Für rechte Intellektuelle und Aktivisten haben Werte fast ausschließlich mit dem Thema Sex zu tun, während weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dem radikal amoralischen Spiel der Marktkräfte überlassen bleiben. Und dennoch „besitzen“ sie Werte und wir nicht. Ihnen traut man zu, dass sie „unsere Werte“ und unseren „way of life“ verteidigen, uns dagegen nicht. Das ist natürlich eine Übertreibung. Und doch ist meine Aussage darüber, wem man Werte unterstellt und wem nicht, eine durchaus zutreffende Beschreibung der herrschenden politischen Kultur.
Aber warum? Die Antwort hängt mit dem ideologischen Positionswechsel zusammen. Liberale und Linke engagieren sich an vielen Fronten, aber diesem Engagement fehlt die Kohärenz. Kein Linker schafft es, die Dinge so darzustellen, dass die verschiedenen Werte, für die wir stehen, ein zusammenhängendes Bild ergeben – eine allgemeine Vorstellung von der modernen Welt und davon, wie unser Land künftig aussehen soll. Die Rechte dagegen hat ein allgemeines Bild. Ich glaube nicht, dass seine Teile sich zu einem kohärenten Ganze zusammen fügen, aber zumindest scheint es so.
Nach den letzten Wahlen argumentierten einige linksliberale Demokraten, dass wir einst ein ähnlich verständliches Gesamtbild hatten und dass wir gut daran täten, auf etwas Ähnliches zurückzukommen. Sie erinnerten dabei an den „kämpferischen Liberalismus“ und den vehementen Antikommunismus zu Beginn des Kalten Krieges. Heute setzen sie auf die Gründung einer neuen liberal-linken Gruppierung, die sich durch eine kämpferisch gegen den islamischen Radikalismus engagiert.
Vielleicht ist das ein welthistorischer Kampf, doch wir sollten uns um eine Art von ideologischem Zusammenhalt und Engagement bemühen, die uns nicht in einen neuen Kreuzzug führt, sondern dazu befähigt, die „Schlachten“ dieses „Kriegs“ in der richtigen Reihenfolge zu schlagen. Ein „kämpferischer Glaube“ als Staatsideologie ist ein rechtes Konzept, dem Liberale und Linke entgegentreten müssen – weil das die wirksamste Methode ist, um Fanatiker und Terroristen zu „bekämpfen“.
Wenn es eine historische Analogie gibt, die uns heute für unser politisches Denken hilfreich sein könnte, so ist es die zum Antifaschismus der 1930er-Jahre. Nun sind zwar alle Bücher und Aufsätze, die den neuen Feind als „islamischen Faschismus“ identifizieren, ohne Zweifel ungenau, doch die Beschreibung ist politisch von Nutzen, so lange wir sie mit der nötigen Vorsicht genießen. Faschismus ist ein politisches Konzept nichtreligiöser Art, dem etwa das irakische Baath-Regime ziemlich genau entsprach. Aber das gilt gerade nicht für jedwede religiös eingefärbte Politik. Und dennoch: Die Mobilisierung von religiösem Eifer und Hass, die autoritäre Struktur und die Brutalität eines Regimes wie etwa der Taliban, der Todeskult ihrer Kämpfer, die radikale Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, all das weist mindestens eine Familienähnlichkeit zu dem auf, was wir uns als klassischen Faschismus vorstellen. Deshalb ist eine politische Antwort gefordert, die sich an liberale, demokratische und egalitäre Grundsätze hält.
Die innenpolitische Wirkung des Kalten Krieges ging nicht etwa in Richtung eines verstärkten Engagements für soziale Gerechtigkeit. Dagegen bewirkte der Antifaschismus durchaus einen linken Aufbruch im eigenen Lande, der positive Ergebnisse brachte, obwohl er durch den Opportunismus und den Kitsch der Volksfrontpolitik belastet war. Die Stärkung der Gewerkschaften und die Veränderungen in der Arbeitswelt waren die wichtigsten Errungenschaften dieser Zeit. Aber antifaschistische Politik bedeutete auch Hilfe für Menschen, die es besonders schwer haben: für Arbeitslose, für ältere Menschen, für die Armen auf dem Lande, für jüdische und (viel später) für schwarze Amerikaner. Das waren gefühlsmäßige, aber auch programmatische Zusammenhänge.
Unser Ausgangspunkt muss die Angst sein, auch wenn sie ein Gefühl ist, das von der Rechten leichter ausgebeutet werden kann. Religiöser Fanatismus und Terrorismus produzieren ein Gefühl echter Unsicherheit; wenn normale US- Bürger heute Angst empfinden, haben sie dafür gute Gründe. Nach Hobbes hat der Staat zuallererst die Aufgabe, den Menschen vor dem gewaltsamen Tod und vor der Angst vor dem gewaltsamen Tod zu bewahren. Diese Aufgabe ist gewiss legitim und notwendig, doch der Staat kann noch viele andere Aufgaben wahrnehmen. Und mit dem Aufpumpen der terroristischen Bedrohung kann man die Amerikaner tatsächlich dazu bringen, diese anderen Aufgaben zu vergessen. Doch wenn man die terroristische Bedrohung anerkennt, kann man das Thema kollektive Sicherheit um ganz andere politische Forderungen erweitern. Schutz für besonders gefährdete Männer und Frauen ist schließlich ein klassisch linkes Anliegen. Und wenn wir das amerikanische Volk vor der Schädigung seiner Umwelt, vor Unfällen in Atomkraftwerken, vor Massenepidemien, vor der Willkür des Marktes, vor Langzeitarbeitslosigkeit und vor Altersarmut schützen wollen, dann müssen wir auch die Zusicherung geben, dass wir sie gegen terroristische Angriffe schützen können.
Kollektive Sicherheit war in den 1930er-Jahren die Kampfparole der intelligenten Linken gegen den europäischen Faschismus. Und Sicherheit für den einfachen Amerikaner war die innenpolitische Kampfparole im Kampf gegen die strukturellen Krisen und die Raubtierhaftigkeit der kapitalistischen Wirtschaft. Können wir diese beiden Parolen wieder zusammenbringen? Ist es möglich, über die Millionen Menschen ohne Krankenversicherung zu reden, über die Profitmacherei in der Pharmaindustrie und den Treibhauseffekt und die Bewahrung der Welt für künftige Generationen, aber auch über Selbstmordattentäter und schmutzige Bomben?
John Kerry hat all diese Themen angesprochen, aber die einzelnen Noten fügten sie nicht zu einer Melodie, die jeder mitsingen konnte. Dabei hängen sie zusammen. Zu sagen, dass „Freiheit von Furcht“ ein zentrale linke Forderung darstellt, ist nicht nur ein rhetorischer Trick. Und es ist kein Zufall, dass diese Forderung erstmals während eines antifaschistischen Krieges von demokratischen Politikern artikuliert wurde, die damit auf die Hoffnungen ihres Volkes reagierten. Die Bürger, meinte Präsident Roosevelt schon 1937, haben ein Recht auf die Erwartung, dass die Demokratie ihnen „immer größere Möglichkeiten und immer größere Sicherheit“ bietet. Dem sollten wir uns immer noch verpflichtet fühlen.
Die Regierung Bush beutet unsere Ängste aus. Aber sie ist nicht daran interessiert, diese durch kollektive Bemühungen zu bekämpfen, die notwendigen Formen von Schutz zu gewährleisten und Anreize für die notwendigen Formen gegenseitiger Hilfe zu bieten. Genau dies ist das egalitäre Projekt einer bürgernahen Linken, weil wir entschlossen sind, die Kosten der Sicherheit fair zu verteilen und sicherzustellen, dass zu allererst die meisten gefährdeten Menschen geschützt oder befähigt werden müssen, sich selbst zu schützen. Mir scheint, dass die meisten unserer Wertvorstellungen in dieses Projekt eingebracht werden können. Wir können die „Freiheit von Furcht“ zu einem plausiblen Konzept machen, das eine Antwort auf die aktuellen Gefährdungen der normalen Menschen bietet und das Prinzip demokratischer Gleichheit ein Stück weit verwirklicht. Wenn es uns gelingt, die Frage der Werte, der Ängste und unser Engagement zu einer Einheit zu verknüpfen, werden wir einen „Kampf“ beginnen, den wir sogar gewinnen könnten.
Übersetzung: Niels Kadritzke © Dissent Magazine