„Du lernst, dich
zu strukturieren“

Wer an einer an Montessori orientierten freien Schule Abitur machen will, der muss 100 Kilometer über die niedersächsische Landesgrenze gucken – ins münsterländische Tilbeck

Münsterlandschule Tilbeck: Von der italienischen Pädagogin Maria Montessori stammt die Idee, dass Kinder „Baumeister ihrer selbst“ sein sollen Foto: Klaus Wolschner

Von Klaus Wolschner

Ein Turm, eine alte Kirche, ein paar schlossartige Gebäude auf einem großen Gelände – eigentlich gibt es beim Stift Tilbeck im Münsterland nichts, was auf eine Schule hinweist. Eher sieht es aus wie ein altes Klostergelände im Grünen, rundherum Äcker und Wiesen – wäre das nicht die große Fahne „Münsterlandschule Tilbeck“.

Wenn man dann durch die breiten Flure geht und in die offen stehenden Räume blickt, sieht man keine Schulpulte in Reih’und Glied, keine Tafel an der Frontseite, kein Lehrerpult. Hier und da beugt sich eine kleine Gruppe von SchülerInnen über Bücher oder einen Laptop. Auf den Fluren stehen kleine Tische, an denen Einzelne sitzen und arbeiten, auf dem Boden liegen Sitzsäcke, auf denen sich einige Jugendliche herumlümmeln.

Ein Gast ist von einer anderen Schule gekommen, um sich mal anzusehen, „wie die das machen“. Denn die Münsterlandschule Tilbeck ist etwas Besonderes. Nicht nur, weil hier zwei Menschen, die für ihr Kind keine gute Schule gefunden haben, eine eigene Schule gegründet haben – 320 SchülerInnen lernen dort inzwischen. Sondern auch, weil die private Gesamtschule – „Ersatzschule“ heißt das in Nordrhein-Westfalen – bis zur 13. Klasse und also bis zum Abitur führt. Das ist bei den freien Schulen, die sich an der Montessori-Pädagogik orientieren, eine absolute Ausnahme. Von den 20 SchülerInnen, die in ein paar Wochen die Klausuren für den Sekundarabschluss schreiben, werden voraussichtlich 17 die „Quali“ bekommen, also die Berechtigung, auf die gymnasiale Oberstufe zu gehen und somit auf „ihrer“ Schule zu bleiben.

Einer von ihnen ist Til. „Ich war auf einer Reformgrundschule, da musste man nichts lernen. Alles war frei. Das war ein weiterführender Kindergarten“, erzählt er. „Ich bin dann auf die weiterführende Schule gegangen und bin zwei Klassen zurückgesetzt worden. Die Lehrerin sagte zu mir: Mehr als einen Hauptschulabschluss wirst du nicht schaffen. Dann bin ich hierher gekommen. In vier Jahren Tilbeck habe ich alles aufgeholt. Ich werde wahrscheinlich die Quali schaffen.“

Es ist ein pädagogisches Konzept eigener Art, das in Tilbeck praktiziert wird. In der Schulbroschüre wird auf die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori Bezug genommen, auch auf den „Marchtaler Plan“ aus dem katholischen Rottenburg bei Stuttgart. In der Schul­broschüre steht aber auch ein ganzer Abschnitt über die Erkenntnisse der Gehirnforschung für das Lernen und dass die Lehrkräfte ihre eigenen Erfahrungen einbringen.

„Wir haben uns umgeschaut und überall einzelne Gedanken gefunden, die wir überzeugend fanden“, sagt Schulgründer Dieter Hieke. Er ist Mathematiker, hat als Unternehmensberater gearbeitet, eine eigene Firma gegründet. „Unser Sohn war in einen Montessori-Kindergarten gegangen und dann haben wir eine Schule gesucht, die diese Gedanken weiterführt“, sagt Hiekes Frau Susanne Beermann. Der befreundete Leiter einer Grundschule riet ihnen, besser eine eigene Schule zu gründen. „Unternehmensgründung können wir, haben wir uns gesagt, und Interessierte gesammelt“, sagt Hieke. Das war im Herbst 2007.

Zusammen mit seiner Frau, ebenfalls Unternehmensberaterin, ist Hieke ausgestiegen aus seiner Firma. Im Sommer 2008 fingen die ersten 50 Kinder mit zwei Lehrern und zwei Sozialpädagogen an – im Stift Tilbeck waren gerade Räume frei geworden.

Tilbeck liegt auf dem Lande, mit 28 Bustouren werden die Schüler aus einem Umkreis von 40 Kilometern herangeholt. Im Stundenplan steht für jeden Tag nur „Freie Arbeit“ und „Vernetzter Unterricht“, also Lernen in fächerübergreifenden Projekten. Dabei ist das freie Lernen keineswegs beliebig – es findet in einer „vorbereiteten Umgebung“ statt. Die SchülerInnen haben Zugang zu Laptops, und im Intranet sind alle Lernmaterialien abrufbar.

Es kann auch einmal Frontalunterricht geben – wenn die Lehrkraft ein neues Thema einführt. Aber im Stundenplan steht das nicht. Die Schüler werden angeleitet, sich über ihr eigenes Lernen Rechenschaft abzulegen – in einem „Logbuch“. Das ist ein mehr als 160 Seiten starkes persönliches Lerntagebuch, ein Begleiter für das Jahr und hochwertig gebunden – keine Zettelsammlung. Darin gibt es am Ende jedes Themenfeldes einen „Test“ zum Ausdrucken – es sind „Selbst-Tests“, in denen SchülerInnen überprüfen können, ob sie das wirklich können. Es gibt keinen Grund zu schummeln – notenrelevant ist das Ergebnis nicht, es gibt bis zur 8. Klasse keine Noten. „Du lernst, dich zu strukturieren“, erklärt eine Schülerin.

Und was ist, wenn jemand über Wochen überhaupt kein Bock hat? „Dann werden wir von unseren Lehrern motiviert“, sagt ein Schüler. Der Lehrer, der aus Entfernung zuhört, lacht. Der Schüler: „Ist schon richtig, was die sagen.“ Man duzt sich in dieser Schule, die Atmosphäre ist familiär. „Ich begleite diese Schüler jetzt seit sechs Jahren“, sagt Mark, der Lehrer, „die Schüler wissen, dass es um sie selbst geht.“

Auf seinem Tisch liegen vier Handys. Es herrscht Handy-Verbot bis zur 10. Klasse. Zwei Schüler fragen, ob sie ihr Handy zurückbekommen können – am Ende des langen Schultages.

Auch die Nutzung des Internets wird kontrolliert. Der Lehrer hat auf seinem Bildschirm eine Liste, wer mit seinem Login gerade wo unterwegs ist im Netz. Wenn der Lehrer eine Verbindung kappt, heißt das: „Ich wecke ihn auf.“ Auch das gehört zu der „vorbereiteten Umgebung“.

Und wo sind die Integrationskinder? „Das fragen Lehrer, die bei uns hospitieren, auch oft“, lacht Susanne Beermann. „Man sieht das nicht. Wir empfinden das als Lob.“

Die ersten beiden Jahrgänge der Tilbeck-Schule sind in der Oberstufe angekommen, sie unterliegen nun den Vorgaben des Kulturministeriums für die engmaschige Vorbereitung des Zentralabiturs – und das bedeutet: Klausuren über Klausuren. „Kompetenzorientierte Kernlehrpläne“ schreiben den Lerntakt vor. „Da bleibt für vernetzten Unterricht wenig Spielraum“, klagt Schulgründer Hieke.

Er will mit dem Ministerium verhandeln, um wenigstens einen Korridor für die Anerkennung des erfolgreichen fächerübergreifenden Unterrichts zu bekommen. Wie das Oberstufenkolleg Bielefeld ihn zum Beispiel hat. 2019 soll der erste „Jahrgang“ Abitur machen.