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Ein Flüstern danach

Jochen Missfeldt erzählt in seinem historischen Roman „Sturm und Stille“ die Liebesgeschichte von Doris Jensen und Theodor Storm, von biografischen Brüchen und berührenden spracherotischen Ritualen

Der Mann mit der Vorliebe für sehr junge Frauen: Theodor Storm, 1868 Foto: Theodor-Storm-­Gesellschaft

Von Carsten Otte

Der Roman beginnt mit zwei Porträtfotos, den Namen der Abgelichteten und dem Aufnahmejahr. Theodor Storm, 1864. Und Dorothea Storm, 1870. Melancholisch schaut der eine, mit einem zarten Lächeln auf den Lippen blickt die andere in Richtung Kamera. Schon die beiden Bilder erzählen, wenn man sich in der Biografie der beiden etwas auskennt, eine Geschichte von „Sturm und Stille“. Denn der Dichter Storm war zum Zeitpunkt seiner Aufnahme noch mit Constanze Esmarch verheiratet, sechs Jahre später dann mit Dorothea, eigentlich Doris genannt, die vor der Hochzeit ihren Mädchennamen Jensen trug.

Die Liebesgeschichte der beiden war tatsächlich ein Drama, das nach Jahrzehnten der Sehnsuchtsstürme und des Stillhaltens vor allem für Doris gut ausgeht. Und kaum ein anderer Schriftsteller als der 1941 im norddeutschen Satrup geborene Jochen Missfeldt hätte diese Geschichte schöner und kenntnisreicher erzählen können, beschäftigen sich seine Romane, Erzählungen und Gedichte doch immer wieder mit jener Gegend zwischen Nord- und Ostsee, die einst zum Herzogtum Schleswig gehörte und die auch das Werk Theodor Storms prägte.

In Missfeldts großem Deutschlandroman „Solsbüll“, der 1989 erschien und in aufgeregten Wendezeiten kaum beachtet wurde, verknüpfte der Autor beispielsweise die Lebensgeschichten dreier Generationen mit der rauen Topografie Norddeutschlands. Er schrieb auch eine Storm-Biografie, und so lag es fast nahe, dass er eines Tages vom turbulenten Liebesleben des „Schimmelreiter“-Autors erzählen würde. Und in „Sturm und Stille“ hat er schließlich eine ideale Form für diese Geschichte gefunden, denn im Mittelpunkt des Romans steht nicht der Husumer Landvogt und Dichter, sondern besagte Doris Jensen, die keineswegs naiv dem Mann begegnete, der sich immer schon für sehr junge Frauen interessierte.

Schon kurz nach Theodors Verlobung mit Constanze, nämlich im Jahre 1846, beginnt sie trotzdem eine Affäre mit, wie sie selbstbewusst und liebevoll zugleich formuliert, „meinem Storm“. Sie gibt ihre verbotene Beziehung auch nach der Hochzeit nicht auf. Als der Skandal schließlich nicht mehr zu verheimlichen ist, muss gemäß der damaligen Gesellschaftsnorm die Ehebrecherin den Ort des Geschehens verlassen. Sie muss, so gesteht Storm in einem Gedicht, „die ganze Schuld entrichten“.

Doch Doris Jensen scheint sich keineswegs nur als Opfer der Verhältnisse gesehen zu haben. Sie schlägt sich in den Wirren der deutsch-dänischen Kriege mal als Hausmädchen und mal als Kellnerin durch, und diese 15-jährige Odyssee erzählt Missfeldt auch als eine Geschichte einer weiblichen Selbstbehauptung. Denn nur mit einer enormen psychischen Stärke, die sich fernab eines bürgerlichen oder religiösen Opfergangs entwickelt, ist auch nachzuvollziehen, dass sie ihrer Liebe treu bleibt, selbst in den vielen Jahren, in denen sie keinen Kontakt mit Storm hat und der Geliebte in seinem Eheleben durchaus aufgeht. Constanze bringt nämlich sechs Kinder auf die Welt, und der Gatte macht Karriere als Jurist.

Dann aber geschieht ein Unglück. Kurz nach der Geburt des siebten Kindes stirbt Constanze, und schon bald holt Storm seine Doris wieder zurück nach Husum. Was unfassbar erscheint, fast wie das Happy-End eines Groschenromans, ist aber wiederum historisch verbrieft und bezogen auf Missfeldts historischen Roman ein erzählerisch notwendiges Finale: Die beiden werden auch offiziell ein Paar. Der jahrzehntelange Ehebruch wird legalisiert. Was für ein Glück die beiden dann erlebt haben müssen, kann man tatsächlich anhand von Storms Liebesgedichten ermessen, die er Doris geschrieben hat und über die es wiederum in einem Brief Constanzes heißt: „Deine abscheulichen Gedichte. Manche kenne ich zu meiner Freude, manche zu meiner Qual, wenn ich sie lese.“

Entscheidende Perspektive

Missfeldts Kunstgriff, diese Geschichte aus der Perspektive der Ehebrecherin zu erzählen, ist entscheidend für die Qualität des Textes, die sich vollends erschließt, wenn man sich ein wenig mit der Quellenlage vertraut macht: Sieht man mal von ein paar Briefwechseln ab, gibt es nur wenige Dokumente, die Details über das Liebesdrama preisgeben. Literarische Spuren der Leidenschaft finden sich in Storms Lyrik und Novellen, und sie sind im Roman geschickt eingebaut, weil sie nur in kleinen Dosen zitiert werden.

So nutzt Missfeldt die historische Lücke, um sie in einen fiktiven Raum zu verwandeln, der wiederum klar definiert ist. Es ist also ein doppeltes Wagnis, die Geschichte im Rückblick aus Sicht der fünfundsiebzigjährigen Doris Jensen zu erzählen, denn Missfeldt muss sich nicht nur in das Seelenleben einer Frau im 19. Jahrhundert einfühlen, sondern auch noch die Widrigkeiten des Alltags sowie die politischen Umbrüche dieser Zeit rekonstruieren – was ihm auf phänomenale, nämlich literarische Weise gelingt.

Die Frau, die um Storms Vorlieben wusste: Dorothea Jensen, verheiratete Storm, 1870 Foto: Theodor-Storm-­Gesellschaft

Zum einen nimmt er den sprachlichen Gestus dieser Epoche auf, ohne daraus für den heutigen Leser eine antiquierte Kunstsprache zu machen. Missfeldt findet zudem eigenständige Erzählebenen, die sich aus dem Romangeschehen ergeben und ihn wiederum strukturieren. So erhalten die Liebestreffen, die alles andere als platonisch gewesen sein müssen, eine zauberhaft poetische Form. Statt das Schäferstündchen auszuerzählen, erfindet Missfeldt ein schönes literarisches Ritual, das Doris im Roman „unser Après, ein Flüstern danach“ nennt. Der Dichter wünscht sich nämlich nach dem Lieben eine Erzählung, und die kleinen Stücke, die Doris im Märchenton vorträgt, handeln von ihrem Leben, ihrer Familie, dem Tod und dem überwältigenden Glück der Liebe. Diese sprachlichen Streicheleinheiten geben die beiden auch nicht auf, als sie nach Jahren der Trennung endlich wieder zusammenkommen. Nur dass sie ihn dann bittet, ein Après zu flüstern.

Mit dem Roman „Sturm und Stille“, der luftig und stimmungsvoll den emotionalen Wetterlagen der Protagonisten nachspürt, zeigt sich Jochen Missfeldt auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Die literarische Meisterschaft des Autors, der Fliegeroffizier bei der Luftwaffe war, Musikwissenschaft und Philosophie studierte, Romane zu schreiben begann und dessen Werk unter anderem mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet wurde, erkennt man nicht zuletzt in der liebevollen Zuwendung, die auch die Nebenfiguren in seinem Roman erfahren.

Vielleicht liegt es auch an Missfeldts eigener Biografie, dass er ein großes Gespür insbesondere für die Brüche in den Biografien dieser Personen aufbringt. Selbst in der einengenden personalen Erzählform findet er immer die passende Tonlage. Mal erschrocken und mitfühlend, wenn Doris vom Irrsinn ihrer Schwester Cile berichtet. Mal lakonisch und schmunzelnd, wenn die Ich-Erzählerin die Erbschaftspläne der alten Dame Tilla beschreibt, die eine Art Künstlerhaus für verarmte Literaten einrichten möchte, aber das Testament nicht rechtzeitig ändert.

Auch wegen dieser anschaulichen Nebenstränge, in denen es immer um das große Ganze geht, ist „Sturm und Stille“ ein Roman, der gewiss bald verfilmt wird. Wenn dereinst also Kinogänger die literarische Vorlage oder gar die Werke Theodor Storms zur Hand nehmen sollten, wird Jochen Missfeldt alles richtig gemacht haben.

Jochen Missfeldt: „Sturm und Stille“. Rowohlt, Reinbek 2017, 352 Seiten, 22 Euro

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