„Ich bin nicht gerne Kind gewesen“

NEUGIER Weltweit baut Günter Beltzig Spielplätze zum Träumen, zum Ausprobieren, zum Toben. Kinder sollen sich entfalten können – und nicht begrenzen müssen

■ Profil: Spielplatzdesigner, was für ein toller Beruf. Günter Beltzig gilt als der profilierteste unter ihnen. Er hat 400 Spielplätze entworfen, und war bei über 3.000 beratend tätig. In den USA, Italien, Deutschland, anderswo. Ein Star seiner Branche. Seine Auftraggeber waren mal große Firmen, mal, Kommunen, mal kleine soziale Einrichtungen.

■ Der Profilierte: Günter Beltzig, 1941 geboren, erst Maschinenschlosserlehre, danach Industriedesignstudium. Er arbeitete bei Siemens, gründete dann seine eigene Firma, die Spielmöbel und ausgefallene Stühle entwickelte. Später wurde er Berater für Spielgerätehersteller. Von dort war es nur ein Katzensprung zum Spielplatzarchitekten.

INTERVIEW ALEM GRABOVAC

Ein Dorf in der Nähe von Ingolstadt. Auf den Wiesen und Äckern sieht man Kühe, Störche, Bussarde. Günter Beltzig wohnt in einem alten Bauernhaus mit niedrigen Decken, kleinen Fenstern am Rand des Dorfes. Der Fußboden, die Tische, die Regale – alles ist aus Holz. Hinter der Küche ist Wald. Günter Beltzig, 71 Jahre, schlichter Pullover, blaue Jeans, geht schwungvoll voran. Kleine Pfade, ein Teich, ein Baumhaus, eine Feuerstelle und ein paar Spielplatzgeräte. Beltzig blüht auf, seine Augen leuchten, wir sind in seinem Spiel-, in seinem Märchenwald. Dann geht es zurück in die Küche. Seine Frau Iri, mit der er seit 41 Jahren in diesem Haus lebt, hat Kaffee gekocht.

sonntaz: Herr Beltzig, hat Sie Ihre Arbeit jung gehalten?

Günter Beltzig: Wissen Sie, manche sagen, der Beltzig ist infantil und naiv. Sie meinen das als Beleidigung. Aber was bedeutet infantil? Es bedeutet kindlich. Und naiv meint aufgeschlossen, aufnahmefähig, natürlich. Wir Erwachsenen sollten mal darüber nachdenken, weshalb wir Begriffe für Kinder als Beleidigung für Erwachsene verwenden.

Was ist Spielen?

Zweckfreies, neugieriges Suchen und Entdecken der Welt und sich selbst. Zum Spielen braucht man Freiheit, Zeit und Raum. Vieles ist nicht Spiel, was wir Spiel nennen. Auf einer Schaukel schaukeln, auf einer Rutsche rutschen ist eine Tätigkeit, kein Spiel.

Sie haben den traditionellen Spielplatz mit Rutsche, Schaukel und Buddelkasten einmal als dumm bezeichnet.

Ja, denn diese Dinge lassen ja kein Spielen zu. Das sind monotone Tätigkeiten. Was Kinder betrifft, sind wir unglaublich nostalgisch. Jeder denkt, er sei Experte. Früher bin ich gerutscht, also brauche ich eine Rutsche. Wir sind gerne geschaukelt, also brauche ich eine Schaukel. Das kriege ich heute noch von Eltern zu hören. Dann sage ich: Das sind doch Turngeräte, die haben mit Spielen nichts zu tun. Ich frage: Wie lange sind Sie denn wirklich gerutscht? Das waren doch nur Minuten.

Wie sieht denn dann ein gelungener Spielplatz aus?

Er sollte Entdeckungsmöglichkeiten haben, erst im Suchen soll sich der Platz erschließen. Er sollte verschiedene Möglichkeiten bieten. Also wenn ich aggressiv bin, brauche ich etwas, um mich abzureagieren. Und wenn ich ruhig bin, brauche ich eine ruhige Stelle. Spielen fängt da an, wo wir Erwachsenen sagen: Kletter da nicht rauf, du fällst runter. Tritt da nicht rein, du machst dich schmutzig und nass.

Sie arbeiten gerne mit Wasser.

Wasserpumpen, spritzende Wasserräder oder fließende Rinnsale bereiten den Kindern große Freude. Kinder möchten gerne verändern, und mit Matsch können die sehr viel machen. Leider werden Spielplätze immer noch zu 99 Prozent von Landschaftsarchitekten gestaltet. Von denen hörte ich immer wieder: Wir haben so einen schönen Spielplatz gebaut, und dann sind die Kinder gekommen und haben alles kaputt gemacht. Aber die haben eben keinen Spielplatz gemacht, sondern eine dekorierte Landschaft. Die haben nicht kindgerecht gebaut. Die wollten sich nur selbst verwirklichen.

Und wie macht man es besser?

Wenn ich eine Sandmulde baue, da können die Kinder den Sand raustragen, der Rand wird dann Trockenwiese oder die Wiese wächst in den Sand rein – das ist wunderbar. Oder das Thema Pflanzen. Falsch wäre, wenn die nicht abgebrochen werden dürfen. Kinder müssen durch die Büsche hauen, müssen etwas abbrechen können. Also pflanze ich da Weiden und Haselsträucher an und das wird dann ein wunderbarer Spieldschungel.

Wie ist es mit den Farben auf einem Spielplatz?

Kinder brauchen es nicht grell und bunt, sie sollen Dinge entdecken. Ich bevorzuge schlichte Naturfarben. Kinder sollen kommunizieren, Dinge gemeinsam tun, miteinander Blödsinn machen. Deswegen sind diese bunten einzelnen Wipptiere auch so ein Unsinn. Da sitzen die drauf und schaukeln dann einsam vor sich hin.

Wie kam es, dass Sie Spielplatzdesigner wurden?

Ich wollte schon als Kind Erfinder werden. Ich habe als kleiner Junge die Günters erfunden. Die Günters waren eine Art Amphibienfahrzeuge. Durch sie konnte ich meiner tristen Nachkriegswirklichkeit entfliehen.

Wo haben Sie damals gespielt?

Die Trümmerlandschaft im Nachkriegswuppertal war mein Abenteuerspielplatz. Es war lebensgefährlich. Aber da wir uns mit der Gefahr auseinandergesetzt haben, wurden wir selbstsicher. Kinder sind von Natur aus sicher, wenn ich sie lasse und nicht ständig bevormunde.

Wie ist es heute – gehen wir zu ängstlich mit unseren Kindern um?

Unser Problem ist, dass wir nur noch Einzelkinder haben. Früher gab es die Großfamilie. Das Schlimme ist, wir sind jetzt reich, haben die Wohnung, das Auto, sind gereist und schaffen uns jetzt noch ein Kind an, bei dem nicht gespart werden soll. Und da wir dann alle schon so alt sind, machen wir kein zweites mehr. Dieses Kind kann gar keine eigenen Erfahrungen machen, da es ständig im Mittelpunkt steht. Und dann hat man eben auch mehr Angst um dieses eine Kind, behütet es zu sehr.

Was muss ich beachten, wenn ich einen Spielplatz im urbanen Berlin oder im ländlichen Bayern baue?

Auf dem Land brauchen wir eigentlich keine Spielplätze, da es dort genügend Wälder, Wiesen, Gärten und Freiflächen gibt. Aber wir brauchen Müttertreffpunkte, da ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Wir brauchen Treffpunkte, wo man gemütlich sitzen kann, möglichst Witterungs- und Sichtschutz hat. Die Mütter sollten eng zusammensitzen, damit sie sich leichter ansprechen können. Auf dem Land muss man mehr an die Mütter als an die Kinder denken.

Und in der Stadt?

In Hochhaussiedlungen brauche ich eher etwas, wo sich die Kinder abreagieren können. Sonst müssen die ja immer still sein und dürfen nicht rumtoben. Auf diesen Spielplätzen muss Krach sein, da brauche ich Geräte, große Drehscheiben, wo ich laufen und runterspringen kann. Oder große Schwinggeschichten oder Netze, wo ich rumklettern und laut sein kann. Ich muss auf diesen Spielplätzen Aggressionen ausleben können.

Wie ist es mit Mädchen und Jungen. Brauchen die andere Spielgeräte?

Früher wurde viel darüber diskutiert und auch viel versucht. Aber das war auch wieder so ein Denkfehler der 68er Zeit. Unser Junge hat auch Puppen bekommen und das Mädchen Autos. Und was ist passiert? Sie hat die Autos gegen die Puppen getauscht und unser Sohn wollte nicht mit den Puppen spielen. Mädchen und Jungen sind unterschiedlich, aber auf dem Spielplatz gleicht sich das aus. Es gibt Mädchen, die größer, abenteuerlicher als Jungen sind, die höher klettern und weiter springen wollen. Jahrelang hat man versucht, unterschiedliche Spielgeräte für Mädchen und Jungen zu bauen. Es hat nicht funktioniert. Die Jungen haben an den vermeintlichen Mädchensachen gespielt. Zum Beispiel ein Häuschen: Mädchen spielen dort vielleicht Mutter, Vater, Kind und die Jungs vielleicht Cowboy. Oder sie spielen mit den Mädchen und sind dann der Familienvater. Es gibt keine spezifischen Jungen- oder Mädchengeräte. Alle Versuche sind gescheitert.

Sie haben in New York, Puerto Rico, Italien und anderswo Spielplätze gebaut. Gibt es kulturelle Unterschiede?

In Amerika steht der Leistungsgedanke im Vordergrund. Spielen fängt ja dort an, wo ich mich langweile. Was ist denn das, ach das ist ja wie bei Rumpelstilzchen, wo ich aus Stroh Gold webe. Dieses Geschichtenerzählen braucht Freiraum, braucht Entscheidungsfreudigkeit. Die amerikanischen Spielplätze bieten keine Freiräume, sie sind wie schnell konsumierbares Fast Food. Ich werde durch den Spielplatz hindurchgescheucht. Da sollen fette Kinder klettern, wie bei einem Hindernislauf, und danach bekommen sie wieder Cola. Da geht es um Leistung, da sagen die Eltern, meiner ist viel schneller als deiner. Das ist kein Spielen.

Und in Südeuropa?

Da geht man ganz anders mit Kindern um. Nur ein Beispiel: Als unser Enkel drei Jahre war, fiel ihm in Deutschland eine Kugel Eis auf den Boden. Was für ein Theater: „Das Kind ist eben noch zu klein, und jetzt darf ich hier den Dreck wieder wegwischen.“ Vierzehn Tage später sind wir im Urlaub in Italien. Gleiche Szene: Bums, das Eis fällt auf den Boden. Und was passiert? Die Verkäuferin bringt dem Kind sofort ein neues Eis und tröstet es noch. Die Kinder in Italien brauchen keine Spielplätze, die sind in die Familie und die Gesellschaft integriert. Die Spielplätze in Italien sind grauenvoll, auch weil sie keiner benutzt. Wenn wir die Kinder in unserer Gesellschaft akzeptieren würden, dann bräuchten wir keinen Getto-Spielplatz.

Was meinen Sie mit Getto-Spielplatz?

Ich mache Gettos und versuche die Gettos so gut wie möglich zu gestalten. Aber es sind und bleiben Gettos. Autos haben einen zu hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Der Parkplatz muss direkt vor dem Haus sein, der Spielplatz soll aber irgendwo an einer ruhigen Stelle liegen, wo die Kinder die Anwohner nicht stören. Die Umwelt müsste bespielbarer gemacht werden, die Kinder müssten besser in die Gesellschaft integriert werden. Die Gärten müssen hübsch und ordentlich sein, der Verkehr muss schnell fließen, jeder möchte seine Ruhe haben. Ja, wo bleibt denn da noch der Platz für Kinder? Im Getto-Spielplatz eben.

Sie haben sich selbst einmal als Verliererkind bezeichnet. Sie sind Legastheniker, und ihr Vater soll gesagt haben: Der Junge ist sicher im Krankenhaus vertauscht worden.

Das war idiotisch, dass er so etwas gesagt hat. Ich bin der Meinung, dass wir den Elternführerschein einführen sollten. Jede schwangere Frau und ihr Mann sollten einen Hochschulkurs von vielleicht drei Monaten belegen, wo sie etwas über Kindesentwicklung lernen. Jeder Manager bekommt Unterricht darin, wie er mit Untergebenen umgehen soll. Oft sind sozial schwächere Menschen viel herzlicher zu Kindern als die erfolgreichen. Die setzen ihre Kinder schon mit zwei Jahren unter Erfolgsdruck. Am besten sollen sie dann schon rechnen und lesen können. Das ist doch alles ein Wahnsinn.

Aber stehen Kinder heutzutage nicht in einem knallharten globalen Wettbewerb?

Die Eltern sollten alles tun, dass ihr Kind kreativ wird, dass die natürliche Kreativität und Neugierde der Kinder erhalten bleibt. Ich brauche nicht Spanisch und Chinesisch zu können, um auf dem globalen Markt mitzuhalten. Nein, ich muss kreativ, neugierig und fantasievoll sein. Dieses Bildungseinpauken geht nach hinten los. Schauen sie nach Japan, die haben die höchste Selbstmordrate. Oder hier, unsere Pisa-Gewinner aus Finnland, die haben die höchste Kinderselbstmordrate. Was wollen wir denn – wir brauchen doch keine Leistungsmenschen, die nach wenigen Jahren seelisch verkrüppelt sind.

Schule, Hausaufgaben, Reitkurs, Musikstunde, Computer, Internet. Kann der Spielplatz abgeschafft werden?

Fast könnte man es so sagen. Aber dann brauchen wir einen Ersatz. Weshalb gibt es in der Schule nicht zum Beispiel eine dreistündige Spielzeit. Dafür müsste der Schulhof zum Spielplatz umgestaltet werden. Die Kinder haben ab der dritten Klasse mittlerweile einen 40-Stunden-Job. Aber nein, da ist der Leistungsdruck: Ich muss besser, härter sein, ich muss kämpfen. Für eine Gesellschaft wie die der Römer, die ihre Gladiatoren in die Arena schickten, war das sicherlich richtig. Aber für eine Gesellschaft, die kreativ, fantasievoll und friedlich zusammenleben möchte, ist dies falsch.

Müssten Spielplätze nicht einfach moderner gestaltet werden? In Ihrer Heimatstadt Wuppertal gibt es eine digitale Fußballwand mit grell aufleuchtenden Treffern und einer Computerstimme, die Punkte vergibt. Brauchen wir in Zukunft digitale Spielplätze?

Es ist sehr schwierig, so etwas im öffentlichen Bereich zu machen. Vandalismus, Temperaturen von bis zu minus 20 Grad, die technische Wartung – digitale Spielgeräte sind unglaublich reparaturanfällig. Außerdem kann ich das auch mechanisch machen. Die Torwand kann durch Glocken Krach machen oder es kann ein Signalfähnchen umkippen. Ich sehe einfach noch nicht die technischen Möglichkeiten. Aber wenn es geht, warum nicht.

Sie haben einmal gesagt: „Kindheit ist nichts Liebliches.“ Wie meinen Sie das?

Ich bin nicht gerne Kind gewesen. Kindsein ist ein harter Job. Sie werden von allen herumkommandiert. Wir schauen auf Kinder runter. Ich habe mal für ein Heim einen Spielplatz entworfen. Da war ein Kinderpsychologe, der kam eines Tages etwas spät. Da fragte ihn eines der Kinder: Warum kommen Sie jetzt erst? Woraufhin der Psychologe antwortete: Was geht dich das an. Die Erwachsenen benehmen sich den Kindern gegenüber oft flegelhaft. Dabei sollten wir sie als gleichwertige Wesen anerkennen.

Waren Sie ein guter Vater?

Ich habe all diese Fehler gemacht, die leider alle Väter machen. Ich wollte gut erzogene Kinder haben, war nicht konsequent genug. Meine Frau hat die Kinder immer getröstet. Als Großvater bin ich jetzt ein bisschen besser, aber auch da nicht konsequent genug. Ich bin ein sehr guter Ratgeber für andere Eltern, sage immer: Bleiben sie ruhig, das geht schon, aber bei meinen eigenen Kindern. Na ja.

Ertragen Sie Ihre Fehler mit Humor?

Ich versuche das Leben mit Humor zu ertragen. Ich finde es erschreckend, was da alles auf uns zukommt. Wir haben unseren Eltern die Nazizeit vorgeworfen. Unsere Enkel werden uns vorwerfen, dass wir die Welt erst recht zerstört haben. Wir haben sie ausgebeutet, Rohstoffe vernichtet, das Kapital der nächsten Generationen vergeudet.

Welche Hoffnungen haben Sie inzwischen aufgegeben?

Dass ich die Welt verändern und verbessern kann. Wir 68er wollten zu viel. Aber vielleicht wirken die kleinen Dinge ja positiv in die Zukunft hinein.

Und wie ist das Älterwerden?

Na ja, ich habe vielleicht noch vier oder fünf, vielleicht sogar noch zehn Jahre. Das Schöne ist, dass ich nicht das Gefühl habe, irgendetwas verpasst zu haben. Ich bin mit meinem Leben einverstanden, bin zufrieden, etwas Schönes für die Kinder, für die Zukunft gestaltet zu haben.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Nein. Ich habe Angst zu ersticken, habe Angst vor Schmerzen. Aber wenn ich wissen würde, dass ich heute nach dem Einschlafen nicht mehr aufwache, würde ich dies als Erleichterung ansehen.

Alem Grabovac, 38, sonntaz-Autor, hat sich im Sandkasten mal in ein Nachbarmädchen aus Paraguay verliebt