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Archiv-Artikel

Ein bisschen weltoffen

Am Ende von Rot-Grün (II): Die Regierung hat bei Einwanderung und Integration einen politischen Paradigmenwechsel eingeleitet – nicht mehr, aber auch nicht weniger

Stärker als Union und FDP hätte man einen problematischen Multikulturalismus kaum fördern können

Es gab in den vergangenen sieben Jahren hinreichend Gelegenheit, die Einwanderungs- und Integrationspolitik der rot-grünen Koalition scharf zu kritisieren. Halbherzig war sie, widersprüchlich und wenig glamourös.

Wir erinnern das jahrelange Ringen, das kleingeistige Gezerre rund um die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes; das Hickhack zwischen den Grünen und Innenminister Otto Schily; die vorweggenommene große Koalition zwischen ihm und dem bayerischen Innenminister Günter Beckstein. Schön war das alles nicht. Und wer sich von Rot-Grün eine schlüssige Migrationspolitik erwartet hatte, der sieht sich heute enttäuscht. Viel Wünschenswertes ist offen geblieben: Weder hat sich die Regierung des Problemfeldes „Illegale“ angenommen, noch konnte sie sich mit ihren Vorstellungen einer doppelten Staatsbürgerschaft durchsetzen. Nach wie vor gibt es Kettenduldungen für Flüchtlinge, eine inhumane Abschiebepraxis und kein Antidiskriminierungsgesetz. Die Liste ließe sich verlängern.

Diese Defizite hat allerdings nicht allein Rot-Grün zu verantworten. Sie sind in erster Linie Ergebnis der jahrzehntelangen Inaktivität der Vorgängerregierungen. Sieben Jahre Rot-Grün reichten nicht aus, um die Unterlassungssünden der Ära Kohl beiseite zu räumen. Und die waren so gewaltig, dass die Migrationsforschung die sechzehn Jahre christlich-liberaler Regierungsverantwortung heute als eine integrationspolitisch verlorene Zeit bezeichnet.

Rot-Grün hat einen einwanderungs- und integrationspolitischen Paradigmenwechsel eingeleitet. Deutschland verfügt inzwischen über ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht, das die Staatsbürgerschaft nicht allein an das Blut und damit völkische Traditionen bindet, sondern auch an republikanische Prinzipien. Fünfzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und millionenfacher Einwanderung war das zwar ein längst überfälliger Schritt, aber kein selbstverständlicher. Vergessen wir nicht das ausländerfeindliche Ressentiment, das der hessische Ministerpräsident Roland Koch Ende der neunziger Jahre mit dem Thema entfesselt hat. Es war das erfolgreichste Plebiszit der vergangenen Jahrzehnte und offenbarte gleichzeitig die Wucht gesellschaftlicher Widerstände, die eine rot-grüne Regierung zu überwinden hatte.

Auch mit der Lebenslüge, Deutschland sei kein Einwanderungsland, hat Rot-Grün gründlich aufgeräumt. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ist Einwanderung mit dem Zuwanderungsgesetz gesetzlich geregelt und damit für Einwanderer und die Bürger ein transparenter Prozess. Gleichzeitig hat sich Rot-Grün in ihrer Rhetorik wohltuend von den Vorgängerregierungen abgesetzt und viel dazu beigetragen, dass der Antagonismus „wir“, die Deutschen, und „ihr“, die Ausländer, nicht mehr so tief spaltet wie in der Vergangenheit. Aber Rot-Grün hat es nicht allein bei wohlfeiler Rede gelassen. Die Anerkennung von Fluchtgründen auf Grund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der nichtstaatlichen Verfolgung gibt es heute ebenso wie den gesetzlichen Anspruch auf Sprach- und Integrationskurse für Neueinwanderer.

Wer heute meint, Rot-Grün hätte trotzdem mehr erreichen können, hat Recht, sollte sich aber auch Rechenschaft darüber ablegen, wie die Koalition das unter den gegebenen Umständen hätte umsetzen können. Angesichts eines kleinen und großen Bürgertums, das mit dem Zusammenbruch der New Economy und den weltpolitischen Ereignissen rund um den 11. September seine zeitweise Weltoffenheit schnell wieder gegen die deutsche Gefühlskonstante Abwehrhaltung eintauschte.

Es mutet befremdlich an, wenn die Konservativ-Bürgerlichen ausgerechnet Rot-Grün und den Achtundsechzigern vorwerfen, sie litten unter einem blauäugigen und naiven Multikulturalismus. Wenn es in der Geschichte der Bundesrepublik einen fatalen Laisser-faire-Multikulturalismus gegeben hat, dann unter der christlich-liberalen Ära. 1982 bis 1998 waren die Jahre, in denen sich die ethnischen Kolonien bildeten, also jene städtischen Agglomerationen, die heute gerne als Parallelgesellschaften oder als sichtbarster Ausdruck der gescheiterten multikulturellen Gesellschaft betrachtet werden. Die christlich-liberale Koalition hat diesen Prozess kräftig befördert: Man verweigerte den Eingewanderten grundlegende Bürgerrechte; eröffnete ihnen kaum neue Wege in den Arbeitsmarkt, nachdem ihre Arbeitsplätze dem Strukturwandel zum Opfer fielen; ihren Kindern wurde eine Bildungspolitik vorenthalten, die ihnen zumindest den Hauch einer Chance auf berufliche Integration gegeben hätte.

Gleichzeitig vernachlässigte das christlich-liberale Milieu die geistige Auseinandersetzung mit demokratiefeindlichen Strömungen unter den Einwanderern. Weder suchte es die Auseinandersetzung mit dem Islamismus, noch kümmerte es der Antisemitismus unter Einwanderern. Im Gegenteil. Protagonisten wie der verstorbene FDP-Politiker Jürgen Möllemann beförderten ihn. Und hochrangige Repräsentanten der CDU hofierten bis zum 11. September Organisationen wie Milli Görüs, um die gemeinsamen Werte bezüglich der Bedeutung von Religion und Familie zu betonen. Stärker als Union und FDP hätte man einen problematischen Multikulturalismus und Parallelgesellschaften kaum fördern können.

Vieles änderte sich mit Rot-Grün. Mit dem Programm der Ganztagsschule werden die Chancen von Kindern aus Migrantenfamilien auf bessere schulische Abschlüsse steigen. Und kaum in der Regierungsverantwortung machte Otto Schily gegenüber islamistischen Organisationen deutlich, dass er von diesen ein klares Bekenntnis zur Verfassung erwartet und Organisationen, die es in Frage stellen, nicht tolerieren wird. Eine Folge, war die Abschaffung des Religionsprivilegs, die Rot-Grün noch vor dem 11. September in die Wege leitete. Sie war die rechtliche Voraussetzung, um antisemitische und gewaltbereite Organisationen wie Hizb ut-Tahrir oder die Kaplan-Bewegung zu verbieten.

Mit der Lebenslüge, Deutschland sei kein Einwanderungsland, hat Rot-Grün gründlich aufgeräumt

Auch den im Sommer 2000 von Rot-Grün inszenierten „Aufstand der Anständigen“ kann, wer will, kritisieren, gar belächeln – eines hat er aber in den Folgejahren dann doch gebracht: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik förderte eine Regierung Organisationen und Bürgerinitiativen, die sich rassistischen, antisemitischen und anderen Formen menschenverachtender Aktivitäten in der Mehrheitsgesellschaft und in den Minderheiten entgegenstellen. Wer will kann das als gutmenschelnden Schnickschnack denunzieren. Das ändert aber nichts daran, dass diese politische Intervention nach den Schockereignissen des 11. Septembers mit dazu beigetragen hat, dass es nicht zu nennenswerten Ausschreitungen kam wie andernorts in Europa.

Eine bessere, als die mangelhafte rot-grüne Migrationspolitik wird es in Deutschland so schnell nicht geben.

EBERHARD SEIDEL