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Esther Slevogt betrachtet das Treibenauf Berlins Bühnen

Der französische Schriftsteller Victor Hugo kam als eratischer Block ja schon in Frank Castorfs letzter Inszenierung am Rosa-Luxemburg-Platz vor: in seinem monumentalen „Faust“. Da waren Hugo und sein Roman „Nana“ unter den Zeugnisgebern für das 19. Jahrhundert, seine kapitalistischen Auswüchse und imperialistischen Ausgeburten, ein Jahrhundert, das mit dem Ausruf des französischen Bürgerkönigs Louis-Philippe „Bereichert euch!“ überschrieben war. Nun widmet Castorf Victor Hugo noch mal eine Einzelfallbetrachtung: im Berliner Ensemble, wo er mit Hugos Romanstoff „Les Misérables“ („Die Elenden“) seine erste Post-Volksbühnenarbeit präsentiert. Normalerweise ist der Stoff, der einmal eine Art Urschrei nach sozialer Gerechtigkeit war, Grundlage für rührseligen Musicalkitsch zur Weihnachtszeit: Habt Mitleid!! Gebt den Armen, was ihr ihnen erst weggenommen habt! Charles Dickens’ berühmte Geschichte vom kaltherzigen Geizhals ­Scrooge und seiner Bekehrung zum Philanthropen in „Chrismas Carol“ hat ja eine ähnlich sentimentale Dialektik. Doch Sentimentalität ist bei Castorf kaum zu befürchten, Dialektik dagegen schon. Insofern konnte das BE keinen besseren Regisseur als Frank Castorf für sein Weihnachtsmärchen engagieren (Berliner Ensemble, Premiere 1. 12., 18 Uhr).

„Women In Trouble“ heißt ein Film des in Venezuela geborenen Regisseurs und Autors Sebastian Gutierrez, den er im Jahr 2009 drehte und in dem er über einen Zeitraum von 24 Stunden sechs Frauen in Los Angeles beobachtet, darunter ein Pornostar, aber auch ganz normale Stadtneurotikerinnen. Die Regisseurin Susanne Kennedy hat den Stoff nun ihrer ersten Arbeit an der Volksbühne zugrunde gelegt. Kennedys Theater lebt von der totalen Entfremdung der Figuren. In der Regel tragen sie Masken und sprechen ihren Texte nicht live, sondern bewegen wie in einem gespenstischen Karaoke nur ihre Lippen zu einer Tonbandkonserve. Aufgesplitterte Menschen in einem Vervielfältigungskabinett verspricht uns nun die Ankündigung der Volksbühne in Trouble (Volksbühne: „Women in Trouble“), Premiere am 30. 11., 19.30 Uhr).

Existenzielle Abgründe, aus denen es kein Entkommen gibt, haben stets auch den Schriftsteller Albert Camus interessiert. In seinem Stück „Das Missverständnis“ geht er diesem Thema in einem besonders finsteren Szenario nach. Am Deutschen Theater hat sich der Regisseur Jürgen Kruse der Sache angenommen. Sonst eher Spezialist für popkulturelle Zugriffe auf berühmte Stoffe. Man darf also gespannt sein (Deutsches Theater: „Das Missverständnis“, Premiere 3. 12., 19.30 Uhr).

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