: Die Verzweiflung trägt Bundfaltenjeans
Herrlich unaufgeregt und höchst musikalisch: „Anna Karenina“ am Schauspielhaus Hamburg
Von Katrin Ullmann
Es gibt sie also, die wahre Liebe. Zumindest im Roman. Etwa wenn sich Anna Karenina und Graf Wronski am Moskauer Bahnhof begegnen. Das spätere Schicksal vorwegnehmend, gerät im Moment ihrer Begegnung ein Mann unter den Zug und stirbt. Doch in dem Augenblick, in dem Anna und Alexei sich begegnen, zählt nur ihr Gefühl. Ein Blick, ein Händedruck, ein Innehalten, eine Verzückung: Klar, hier sind zwei Menschen einander verfallen.
Im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses findet diese berühmte Szene aus Tolstois „Anna Karenina“ in einem kleinen Guckkasten statt. Oberhalb der eigentlichen Bühne (ein Tonstudio), einem Kasperletheater ähnlich, agieren die Darsteller vor einer Moskauer Stadtkulissentapete. Dazu Rauch, der eine Dampflokomotive simuliert, Winterlicht und ein Ensemble, das mit dem Eurythmics-Song „Sweet dreams are made of this“ den Sehnsuchts-Soundtrack vorgibt. Ute Hannig als Anna Karenina und verheiratete Frau hat ihre Hände da noch halb entschlossen im Muff vergraben, Yorck Dippes Lebemann, Frauenheld Wronski verdreht bereits Hals und Kopf samt Pelzmütze nach ihr.
Wenn Anna und Wronski – sie in einer großartigen Geschmacklosigkeit aus aufgerüschtem Schwarz-Weiß und er in einem weißen, nur vermeintlich dandyhaften Glanzanzug (Bühne und Kostüme: Anke Grot) – einander auf dem nächstmöglichen Ball begegnen, durchzuckt Leidenschaft den Raum. Da kann die bis dahin hoffnungsfrohe Kitty (Clemens Sienknecht in einem rosaroten Verliererkleid) wie bei der verpatzten Damenwahl in der Tanzstunde nur ins Leere laufen. „She’s fresh“ : Yorck Dippe tanzt und singt sich für Anna mit dem Hit von Kool & The Gang pfauenhaft in höchste Erregung. Dabei ist seine Figur – mit Kassengestell, Kopfhörern und Babylöckchen-Vokuhila – jenseits jeder Erotik angelegt. Es lebe die Behauptung. Und es leben die 80er Jahre!
Mit dem ausufernden Titel „Anna Karenina – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ ist dem Regieteam Barbara Bürk und Clemens Sienknecht eine feinsinnige Übertragung des Romanstoffs gelungen. Ein performatives Live-Hörspiel: unterhaltsam, empathisch, tragisch und vor allem hochmusikalisch. Mit Gespür für Timing, Musik und den richtigen Ton haben Bürk und der ehemalige Marthaler-Schauspieler Sienknecht auch aus diesem „berühmten Seitensprung der Weltliteratur“ eine Radioshow entwickelt. Wobei, im Vergleich zum Vorvorgänger und letztjährigem Theatertreffengast „Effi Briest“, das Radio als Medium diesmal deutlich weniger bespielt wird. Was vermutlich der voluminöseren, mehr als 1.000 Seiten ausufernden Vorlage geschuldet ist. Hin und wieder aber verlost auch hier der Moderator (Markus John) ein „Verwöhnwochenende in Osnabrück“, berichtet vom Pferderennsport und der verletzten Stute Frou-Frou oder vermeldet – bei Beziehungskrisen – „keinen Verkehr auf der B 38“. Häufiger müssen einfach mal 500 Seiten weggeblättert werden.
Lew Tolstoi schrieb den Gesellschaftsroman zwischen 1875 und 1877. Drei Handlungsstränge verwebt er in dem detailliert ausgearbeiteten Meisterwerk. Der Stoff ist der, aus dem das Leben ist: Ehe und Untreue, Liebe und Leidenschaft, Gesellschaft, Verzweiflung und Sinnlosigkeit. Mit mauvefarbenen Anzügen, schlecht sitzenden stone-washed Bundfaltenjeans, verlorenen Lederkrawatten und verunglückter Dauerwelle stellen sich im Malersaal die Romanfiguren diesen Herausforderungen; verletzte Eitelkeiten, Eislaufkünste und Enttäuschungen inklusive.
Auf höchstem schauspielerischen Niveau – man beobachte nur die feine Mimik von Michael Wittenborn als betrogenem und dennoch sachlich abwägendem Karenin – erzählt der Abend von Schnepfenjagd, Pferderennen und verlorenen Lieben. Atmosphärisch verortet im musikgetriebenen Walkman-Jahrzehnt. Klug, vielschichtig und herrlich unaufgeregt.
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