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Elf Gesichter einer Frau

Mit Tracy Letts’ Stück „Eine Frau“ gelingt David Bösch eine berührende Inszenierung am Berliner Ensemble

Starke Dialoge und starke Schauspieler: Szene aus „Eine Frau“ Foto: Marcus Lieberenz

Von Barbara Behrendt

Mary Page Marlowe ist 40, wenn sie zum ersten Mal auf der Bühne vor uns steht. Es ist das Jahr 1986, Bettina Hoppe trägt als Mary Page den damals obligatorischen Jeansrock, Glitzergürtel und Lederjacke mit breiten Schultern. Der Neon-Schriftzug des amerikanischen Diners leuchtet, während sie ihren Kindern zwischen Cola-Bechern und Burger-Papier beibringt, dass die Ehe mit deren Vater nicht mehr zu retten ist.

Die Bühne dreht sich, Rückblick, 1965, ein College-Zimmer mit Postern von Elvis und Audrey Hepburn an der Wand: Mary Page ist 19 und erzählt ihren aufgekratzten Freundinnen vom Antrag des begehrtesten Jungen, den sie soeben abgelehnt hat – sie will unabhängig bleiben, nach Paris gehen. Carina Zichner spielt jetzt diese selbstbewusste junge Frau voller Sehnsucht und Mut. Was ist passiert, dass Mary Page 20 Jahre später dann doch mit zwei Kindern resigniert vor den Trümmern ihrer ersten Ehe steht?

Erfolgsautor aus den USA

Tracy Letts hat mit „Eine Familie“ nicht nur den Pulitzer-Preis gewonnen, er hat auch den Bühnen einen Publikumshit beschert – und es nach Hollywood geschafft: Der Film lief mit Meryl Streep und Julia Roberts im Kino.

In seinem neuen Stück, „Eine Frau – Mary Page Marlowe“, führt Letts nun in elf Schlüsselszenen durch das Leben der heute 69-jährigen Mary Page. Nicht linear, sondern punktuell, so schlaglichtartig, wie Erinnerungen nun mal aufblitzen. Wie ein Fotoalbum blättert sich das Leben dieser Amerikanerin auf und erscheint zunächst ziemlich durchschnittlich, offenbart dann aber mehr und mehr Risse und Tiefschläge: Trennungen, Affären, ein folgenreiches Alkoholproblem, der Verlust ihres Sohnes. Ein deutlich melancholischeres Wellmade-Play als „Eine Familie“.

David Bösch setzt in der deutschen Erstaufführung auf Gefühl und Atmosphäre, auf die starken Dialoge des Stücks – und auf seine Schauspieler. Auch wenn Bettina Hoppe ihrer Figur am meisten Vielschichtigkeit, Gebrochenheit verleiht, lebt der Abend von einem insgesamt starken Ensemble. Neben den beiden wunderbar bodenständigen Ehemännern und Lovern Sascha Nathan und Martin Rentzsch gibt Carina Zichner die schroffe, unsichere junge Mary Page, allein Corinna Kirchhoff als alternde Hauptfigur übertreibt es gelegentlich mit dem hochdramatischen Ton.

Auf der Bühne drehen sich die Zimmer im Retro-Look, Motel, Diner, abgerocktes Wohnzimmer, Krankenhaus, stets mit dem passenden Song fürs Jahrzehnt: Debbie Reynolds, Black, Tanita Tikaram – der Soundtrack eines Lebens. Das zielt direkt aufs Gefühl, wirkt manchmal allerdings symbolisch überfrachtet – was man zuweilen auch dem Stück selbst vorwerfen kann. Und doch ist es eine Wohltat, sich im Theater (selten genug!) in Menschen und deren Lebensfragen vertiefen zu dürfen – und nicht nur in blutleere Regiekonzepte. Das Porträt dieser Frau, die sich selbst zwischen der überholten Rollenverteilung der 1950er Jahre und der Selbstverwirklichung der 1980er verloren geht und nach der Verantwortung fragt für das, was am Lebensende übrig bleibt, ist den Besuch des neuen Berliner Ensembles durchaus wert.

Für eine überwiegend gelungene Inszenierung auf der großen Bühne wurde es auch höchste Zeit. Denn der Auftakt unter dem Intendanten Oliver Reese, der den Feuerkopf Claus Peymann nach 17 Jahren beerbt hat, wirkte bisher eher fragwürdig: Vorab hatte Reese jeden Auftritt genutzt, um das Berliner Ensemble (mithilfe von schreienden, neongelben Plakaten) als „Neu“ und der „Gegenwart“ verhaftet anzupreisen. 13 von 16 Premieren der Spielzeit, so Reese, lägen Texte von lebenden Autoren zugrunde. Und dann startete er mit zwei gut abgehangenen Klassikern von Bertolt Brecht und Albert Camus im großen Haus. Das neue Stück des Norwegers Arne Lygre wurde ins kleine Haus verbannt – nicht gerade ein Statement für Vertrauen ins Autorentheater, das Reese stets beschwört.

Neustart mit altmodischer Anmutung

Beim ersten Blick auf die große Bühne erlebte man auch ästhetisch einige Déjà-vus: Clownsschminke, Blut, Nebel, Donner – der junge Antú Romero Nunes zeigte eine ähnliche Grundausstattung wie der zuletzt als „altmodisch“ gescholtene Regisseur Peymann. Auch vom „politischen Gegenwartstheater“, das „sich einmischt“, wie es Reese ankündigte, ist noch wenig zu sehen.

Das große Pfund des Hauses ist eindeutig sein hochkarätiges Ensemble. Doch auch hier ist die Bilanz nach den ersten beiden Monaten zwiespältig: Es genügt nun einmal nicht, ein Dutzend Stars auf der Bühne ihre Klaviatur zur Schau stellen zu lassen – wie das etwa in Letts’ „Eine Familie“ in der Regie des Hausherrn selbst (ein Import aus Reeses Frankfurter Intendanz) geschieht.

Die nächste Premiere besorgt übrigens Frank Castorf, der sein Haus am Rosa-Luxemburg-Platz bekanntlich an Chris Dercon verloren hat. Strategischer Schachzug, um die heimatlos gewordenen Castorf-Fans ans Haus zu holen? Geschickt, das muss man ihm lassen, ist Reese allemal.

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