: Ein langes Leiden wie kein anderes
„Einen vergleichbaren Fall gab es noch nie“: Im Prozess um den Hungertod der siebenjährigen Jessica bestätigt ein Rechtsmediziner, dass das Mädchen über Jahre hinweg unterernährt war. Das Hirn war bereits irreversibel geschädigt
Von Elke Spanner
Die Eltern der am 1. März verstorbenen Jessica haben ihre Tochter über Jahre hinweg hungern lassen. Der Rechtsmediziner, der die Siebenjährige nach ihrem Tod obduzierte, sagte gestern vor dem Hamburger Landgericht, das Mädchen war „chronisch unter- bzw. mangelernährt“. Einen solchen Fall langjähriger Misshandlung habe es in der jüngeren Geschichte noch nicht gegeben: „Um einen vergleichbaren Fall zu finden, musste ich in der Literatur zurückgreifen auf die Sektionsprotokolle des Warschauer Ghetto.“
Dass Kinder infolge von Hunger und Durst sterben, habe er zuvor bei Säuglingen oder Kleinkindern unter zwei Jahren erlebt, die zumeist von einer drogensüchtigen Mutter plötzlich für mehrere Tage allein gelassen wurden. Jessica hingegen hat über Jahre hinweg gelitten. Bei ihrem Tod war die Siebenjährige auf dem körperlichen Entwicklungsstand einer Dreijährigen. Am Montag noch hatte Marlies S. behauptet, ihre Tochter drei Mal am Tag gefüttert zu haben.
Jessicas Eltern sind vor dem Landgericht wegen Mordes und schwerer Vernachlässigung ihres Kindes angeklagt. Nachdem der Rechtsmediziner gestern Fotos begutachtet hatte, die Jessica im Alter von zwei Jahren zeigen, gab er zu Protokoll, dass das Mädchen sich bis zu diesem Zeitpunkt offenbar altersgerecht entwickelt hatte. Das Gericht hatte an früheren Verhandlungstagen bereits über Zeugen erfahren, dass die Eltern mit Jessica in ihren ersten Lebensjahren in einer Wohngemeinschaft in Billstedt gelebt hatten und dann erst in eine Hochhaussiedlung in Jenfeld gezogen sind. Dort begann offenbar ihr Martyrium.
Seit Sommer 2000 hatte Jessica die Wohnung nicht mehr verlassen. Keiner der Nachbarn hat das Mädchen gekannt. Medizinisch hat sich bestätigt, dass Jessica seit Monaten, wahrscheinlich sogar seit Jahren in einem abgedunkelten Zimmer gelebt und kein Tageslicht mehr gesehen hat. Hätte man sie vor ihrem Tod gefunden, sagte der Rechtsmediziner auf Nachfrage, wäre sie mit einer Intensivtherapie womöglich noch zu retten gewesen. Jessicas Gehirn aber war durch die Mangelversorgung bereits erheblich und irreversibel geschädigt.
Zudem diagnostizierten die Rechtsmediziner das so genannte Kaspar-Hauser-Syndrom: Da Jessica von ihren Eltern wie eine Gefangene in einem abgedunkelten Zimmer gehalten wurde, hatte sie sich körperlich und in ihren Fähigkeiten wieder zurückentwickelt. Dem Befund ihrer Knochen zufolge hat sie sich in den Monaten vor ihrem Tod nicht mehr auf zwei Beinen bewegt. Allenfalls kann sie gekrochen oder gerobbt sein.
Gestorben ist Jessica daran, dass sie an ihrem Todestag wieder einmal etwas zu essen bekam. Die Ärzte fanden im Magen Reste von Schokopudding und Hühnerfrikassee. Da ihr ausgetrockneter Darm aber durch Kotsteine verschlossen war, erbrach sie sich und erstickte an dem Erbrochenen. Wegen der Kotsteine, die alleine 870 Gramm ihres Gewichtes von nur 9,6 kg ausmachten, muss Jessica in den Tagen vor ihrem Tod starke Schmerzen erlitten haben. Zudem hatte sie offenbar eine Harnwegsentzündung, weil sie ihr Leben lang Windeln tragen musste.
Der Prozess wird fortgesetzt.