Für den Lesespaß ist Unglück von Vorteil

Alle suchen vergebens nach einem größeren Glück: der schön wortpralle, prima zynische lesbische Campus-Roman „Metrofolklore“ von Patricia Hempel

Ihr Roman „Metro­folklore“ ist lustig und hart zugleich: Patricia Hempel Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz

Von René Hamann

Vielleicht doch mal Ovid lesen. Der altrömische Lyriker hat in diesem Debütroman ebenso seinen prominenten Platz wie Seneca oder Sappho, und das ist an sich schon überraschend. Andererseits eben nicht – es geht, wie eigentlich immer, um die (hier: sapphische) Liebe, um die große Stadt (der Roman hat den etwas ablenkenden Titel „Metrofolklore“), um die Verführung, den Rausch und die Macht. Es geht um das Studium von sehr, sehr altem Kram – nicht nur antike Dichtkunst, die hier immer mal wieder gedroppt wird, sondern auch Archäologie. Und um das alte Ding mit der Minne, dem Besingen des unerreichbaren Objekts der Liebe, die schon belegt ist und hier Helena heißt; die junge Vorzeigestudentin ist nämlich schon die Geliebte des – tja – Dekans.

Der Spielplatz des Ganzen ist Berlin und zum Glück nicht Hildesheim. Hier wie dort hat Patricia Hempel, Jahrgang 1983, studiert. Hier das eine und dort das andere: Erst Ur- und Frühgeschichte in Berlin, dann Literatur in Hildesheim. Heraus gekommen ist aus dieser Kombination nun dieser schön wortpralle, überaus unkorrekte, prima zynische, unterhaltsame und lehrreiche Roman. Ein lesbischer Campusroman! Wurde Zeit, dass dieses Genre eröffnet und bedient wurde.

Es geht also um Helena und die Erzählerin, die sich mittels der Liebestipps aus dem alten Rom (Ovid, „Ars amatoria“) an diese Schöne heranzumachen versucht, es deswegen auch nach alter Methode zunächst bei der besten Freundin Romy versucht. Die soeben aus einer Beziehung zu einem Detlef rausgeworfen wurde. Überhaupt scheinen alle vergeben oder vergebens nach einem größeren Glück zu suchen.

Die Erzählerin selbst – die Autorin hat einen Cameo-Auftritt als Patrizia, die sich für mittelalterliche Musik interessiert – führt ja auch so eine Beziehung, die irgendwie ganz gut ist, aber auch nicht so wirklich das Gelbe. Schon deshalb nicht, weil Freundin Anika dringend gebären möchte und dazu einen alten Jugendfreund auftut, mit dem sie sich zurück zur heteronormativen Heimatfront vögelt.

Ich bitte um Entschuldigung für die Wortwahl. Aber so ähnlich geht es in dem Buch auch zu. Die Handlung ist ein bisschen wie aus den amerikanischen Vorlagen, nein, nicht den Filmen, sondern diesen Büchern, die ich nur vom Hörensagen kenne. Campus-Diaries, die von nicht viel mehr als dem Alltag des Studierendenlebens erzählen und im Grunde endlos weitergehen könnten (Teile 1–16), bis zum Schluss dann doch der Doktorhut geworfen wird.

Persiflage auf den Pop-Roman

Auch in „Metrofolklore“ schleppt sich die Handlung so hin, denn schnell ist klar: Die Erzählerin wird Helena nicht kriegen. Das Unglück macht aber weiter. Persönliche Theorie dazu: Bei der Erzählerin handelt es sich um eine typische Jungstudentin mit Ödipus- respektive Elektra-Komplex. Da es ihre Sexualität jedoch verbietet, sich an den Dekan ranzumachen, muss sie sich eine Stellvertreterin suchen, die genauso unerreichbar bleibt: Helena, die Geliebte des Dekans. Eine Lesbe, die sich in eine vergebene Heterosexuelle verliebt. So kann sie unglücklich bleiben. Für den Lesespaß ist das nur von Vorteil. Ansonsten lässt sich sagen, dass der Roman überraschend oft im Winter spielt (Weihnachten wird sehr präsent abgehandelt), man sitzt oft mit der Protagonistin im Auto und fährt sogar nach Cottbus raus.

Dass an mittelalterlicher Musik auch irgend etwas nicht peinlich sein kann, kann man hier ebenso lernen wie so manchen Ratschlag in Sachen Liebeswerben, der meist aber leider doch nicht aufgeht, obwohl er wirklich gut klingt.

Literarisch muss man oft an J. D. Salinger denken, an Philip Roth, an Christian Krachts „Faserland“ oder unterverkaufte Berlin-Romane der nuller Jahre. (Dass mir in diesem Zusammenhang so wenige von Frauen geschriebene Romane einfallen, liegt nicht nur an mir.)

Nur: „Metrofolklore“ mag auch ein Pop-Roman sein, oder wie die Autorin sagt, eine Persiflage auf einen solchen. Ein Campusroman ist es aber auch: Und wie viele deutsche Campusromane fallen Ihnen ein? Und wie viele gute? „Metrofolklore“ aber ist lustig und hart, pfeift weitgehend auf Plot- und Spannungsbögen und gleitet am Ende einfach so aus wie eine Single mit Industrieblende. Und er ist lesbisch, was einerseits egal, andererseits erfrischend ist.

Der „PC-Fraktion“ wird er dennoch nicht gefallen; ein Grund, in ihm einen Verbündeten für Hildesheim-Sexismus oder Gomringer-Wand-Verteidiger zu finden, besteht dennoch nicht. Gelästert wird hier nämlich auch, und zwar durchgehend, und das sogar auf mindestens akzeptablem, wenn nicht sogar hohem Niveau.

Patricia Hempel: „Metrofolklore“. Klett-Cotta, Stuttgart 2017, 207 Seiten, 20 Euro