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Archiv-Artikel

Gegen die Verhältnisse

Christian Petzolds neuer Film „Gespenster“ muss als glücklicher Film gesehen werden. Er handelt auf besondere Weise von einer besonderen Art von Wirklichkeit. Man sieht sie jeden Tag und hat sie doch nie gesehen: die Wirklichkeit des Alltags als Märchen

VON GEORG SEESSLEN

Die Antwort auf die Niedergeschlagenheit in Mitteleuropa ist Johann Sebastian Bach. Seine Musik öffnet einen hohen Raum über dem Elend. Als Materialist könnte man wohl sagen, dass sie erklärt, dass es keine „Privatsachen“ gibt. Man kann natürlich auch Transzendenz sagen. Jedes Bewegungsbild, das mit der Musik von Johann Sebastian Bach verbunden wird, erhält eine zweite Räumlichkeit, eine euphorische Gewissheit (so wie man mit Schubert, zum Beispiel, dem Film eine zweite Bewegung verleihen kann). Es gibt Kino-Bilder, die ohne Bach nicht zu ertragen wären.

Oder umgekehrt. Sagen wir: eine Autofahrt durch Berlin, wie sie am Beginn von Christian Petzolds „Gespenster“ steht. Bachs Arie von den „Bächen von gesalznen Tränen“ enthält die Unerträglichkeit und die Überwindung. Um es noch einmal anders zu sagen: Die Menschen, die wir in den folgenden Bildern kennen lernen, sind nirgendwo als in dieser Musik zu Hause. Sie haben keine soziale Heimat, nicht einmal eine „Hood“, kein Milieu, keine Codes. Sie haben kein genaues Woher und Wohin, ihre Menschengewissheit liegt außerhalb der Handlung, außerhalb jenes Raumes, den eine Kamera vielleicht suchen, aber auf keinen Fall mehr „festhalten“ kann.

Schon mit den ersten Einstellungen ist man in einer besonderen Art von Wirklichkeit: Man sieht etwas, das man jeden Tag sieht, und von dem man im gleichen Moment bemerkt, dass man es nie gesehen hat. Der Alltag. Nina (Julia Hummer) hat einen der Jobs, von denen man sich in Hartz-IV-Deutschland „besser als gar nichts“ zu sagen angewöhnt hat. Das „Heimkind“ trägt eine dieser Leuchtjacken, die mittlerweile zur visuellen Perforation des mehr oder weniger öffentlichen Raums geworden sind: Ausdruck materieller oder sozialer Katastrophen. Sie säubert den Rasen im Berliner Tiergarten.

Nina wird Zeuge, wie eine junge Frau von Männern geschlagen wird. Sie findet einen Ohrring auf dem Kies. So treffen sich zwei Menschen, Nina, die sich trotzig und scheu der Welt verschließt, Toni, die Diebin, die sie sich für die eigenen Wünsche öffnet. Funktionieren, wie man so sagt, tut beides nicht.

Bewundernswert, wie in den Szenen dieser Begegnung Petzold uns hineinzieht, in Bilder, die auf beides weisen: eine Wirklichkeit, wie man sie als normaler Mensch nur in den seltenen Zuständen erregter Übermüdung, in der sensiblen Ernüchterung nach einem Lebensrausch oder in eigenen Suchbewegungen empfindet, ganz ohne routiniertes Ausblenden des Selbstverständlichen, das uns nichts angeht. Und das Märchen, das auch hier mit dem Überschreiten einer Grenze, mit dem Fund eines magischen Objekts, mit ängstlichem Staunen beginnt. Und in dem es nichts gibt, was „nur so“ da ist.

Nina und Toni sind die verlorenen Märchenkinder in der Wirklichkeit. Immer gibt es da dieses Paar. Zaudernder Hänsel und tatkräftige Gretel. Das Sehen und das Handeln, Geben wollen und Nehmen müssen, Peter Pan und Wendy, und immer zeigt sich im Verlauf der Geschichte, dass eines nicht besser ist als das andere, dass aber auch keine Verschmelzung möglich ist. So sehr sie ersehnt ist. Wie der Kuss zwischen Peter Pan und Wendy, der sie in Wahrheit trennt, wie der Tanz von Nina und Toni im Diskotheken-Rot, der sie vereint und trennt. Nur im Hinblick auf das andere, auf die Gefahr, auf den Zauber, und nur in der Bewegung gelingt die Einheit. Man wird einander wieder verlieren, so viel ist gewiss.

Da ist also die dritte Frau, Françoise, die Mutter auf der Suche nach ihrem verlorenen Kind, das hier in der Stadt vor vielen Jahren entführt wurde. Pierre, der Mann, versucht, überredend, sanft, sie zur Rückkehr nach Paris zu bewegen. Zurück in die Wirklichkeit. Aber Françoise glaubt, in Nina ihre Tochter gefunden zu haben. So wird Berlin, aus dem Grün des Tiergartens heraus, zum Zauberwald der Identität.

Verrückterweise aber ist es gerade diese Märchenkonstruktion des Films, die den Blick für das Wirkliche schärft. Das Wirkliche, das besteht zum Beispiel aus Machtverhältnissen. Das beginnt mit dem Aufseher, der Nina gleich am Anfang demütigt, der ihr noch in diesem Job, der ohnehin die neoliberale Parodie der Sklavenarbeit ist, einen Arbeitsbetrug unterstellt, und der den Müll, den sie gesammelt hat, wieder über der Wiese auskippt, als gelte es noch den Rest von Sinn und Dramaturgie darin abzutöten. Es führt in die Heime, Straßen und Kaufhäuser, nein, eben nicht „Kaufhaus“, sondern der „H&M“-Laden, der in jeder gottverdammten Einkaufszone dieser gottverdammten Republik die gottverdammt gleichen Klamotten anbietet, die Uniformen der Klasse, aus der Nina und Toni stammen; und nicht zuletzt geht es ja um eine Bürgerin, die die verlorene Tochter nur in der neuen Sub-Klasse suchen kann.

Das Menschensuchen ist in der Welt des Bildermachens nicht leichter geworden. Die Welt besteht vielmehr aus Spuren der Verschwundenen. Die Überwachungskamera hat ein Bild der Entführung aufgenommen. Die Magie dieses Films, der so ruhig erscheint, während er zum Bersten erfüllt und angespannt ist, entsteht nicht zuletzt durch die Grammatik der Darstellung. Petzold lädt nicht zur Identifikation ein, man sieht die Welt nicht durch die Augen der Protagonisten, und man erhält kein Plädoyer fürs Mitleid. Es ist eine Nähe, die nicht mit der Illusion des psychologischen Realismus abgefedert wird. Aber genauso wenig sind seine Figuren reine Phantasmen in einem metaphorischen Spiel. Es geht ja um Gespenster, die Menschen werden wollen. Was aber ist ein Mensch? Bizarrerweise eben gerade nicht Ich. Ein Mensch ist immer ein anderer. Einer, von dem ich dieses oder jenes wahrnehmen und wissen kann, den ich deswegen noch lange nicht verstanden oder erklärt haben kann. Ein anderer Mensch ist etwas, was ich weder haben noch sein kann. Und so filmt Petzold seine Menschen. Nicht als „Ich“ und nicht als „Sie“, sondern als Du.

Das hat Konsequenzen. Zum einen nehmen uns die Filme von Christian Petzold im Besonderen und die Filme der „Berliner Schule“ im Allgemeinen als Zuschauer wesentlich ernster, als wir das gewohnt sind. Wir sind in diesem Dialog beteiligt am Prozess der Menschwerdung, während wir uns gleichzeitig die Frage stellen müssen: Hey, wie leben wir denn eigentlich? Ist das unsere Welt, unsere Sprache, unsere Beziehung zueinander? Gerade weil uns die Figuren als autonome Gegenüber entgegentreten, wächst die Verantwortung gegenüber einer gemeinsamen Welt, wächst das Selbstbewusstsein des Blicks. Handwerklich gesprochen: Gerade weil die Schauspieler so gut sind, gerade weil eine Einstellung so genau ihre Dauer gefunden hat, sehen wir eine Stadt, ein Ding, ein Ritual (wie das Casting, das über einen Eintritt in die Bildermaschine entscheiden soll und das uns in so vielen hässlichen Filmen als „Schicksal“ verkauft wird), all die Dinge, die in der gewohnten melodramatischen Organisation von Welt und Gefühlen verschwinden müssen oder zur moralischen Kulisse werden. Das Großartige ist: dass der Mensch nicht aufgeht in seiner Welt. Beinahe jede Einstellung des Films findet diesen Augenblick der reinen Wahrheit, und wie bei Bresson, zum Beispiel, weiß man nicht genau, ob man in diesem Augenblick der Wahrheit vor Glück oder vor Schmerz zerspringen soll. Bei Bach weiß man das ja auch nicht.

Petzolds Menschen-Kino funktioniert zum anderen, weil auch seine Schauspieler diese Mischung aus Selbstbewusstsein und Demut haben. Dahinter steckt auch eine Methode der Befreiung, von der Diktatur des geschriebenen Wortes zum Beispiel, von der Kreation des Image, von der Hierarchie von Darstellung und Inszenierung. Was man ganz tief am Grund eines Petzold-Filmes sehen kann, das ist der Respekt, den die Beteiligten füreinander haben. Film ist hier nicht ein Erzählen und Zeigen, sondern ein gemeinsames Fragen. Eine Erfahrung, um ein etwas hochtrabendes Wort zu benutzen.

Natürlich ist „Gespenster“ ein Film der Trauer. Hoffnungen erfüllen sich nicht. Gefühle müssen verraten werden, Zeichen haben getrogen. Märchen und Wirklichkeit werden so wenig zu einer Einheit wie Innen- und Außenwelt. Eine Lösung gibt es nicht, und der Zorn findet kein greifbares Objekt; selbst das Element der „Gnade“ im Augenblick des größten Leids, wie wir es aus dem Kino des „transzendentalen Stils“ kennen, steht nicht am Ende wie der Notausgang für Leute, die an Happy-Endings nicht mehr glauben.

Und trotzdem muss man sich „Gespenster“ als einen glücklichen Film vorstellen. Nicht nur, weil Kunst immer glücklich ist. Sondern auch, weil er das Recht des Menschen verteidigt. Gegen die Verhältnisse, die ihn zum Material machen, gegen die Bilder, die ihn zum Indiz reduzieren, und auch gegen ein Kino, das ihm das Gespensterdasein schmackhaft machen will.

„Gespenster“, Regie: Christian Petzold. Mit Julia Hummer, Sabine Timoteo, u. a., Deutschland 2005, 85 Min.