berliner szenen: Bevor er anfängtzu glühen
Noch etwas verschlafen stapfe ich in die Küche und setze mir ein Frühstücksei auf. Das dauert ein paar Minuten, also geh ich runter, um den Müll rauszubringen. Die kühle Luft macht mich ein bisschen wacher. Doch als ich wieder vor der Wohnungstür stehe, bin ich mit einem Mal so richtig wach. Ich bekomme die Tür nicht mehr auf. „Oh mein Gott, ich habe den Ersatzschlüssel innen stecken lassen!“, durchfährt es mich. „Ach du Scheiße, es ist ja auch noch Feiertag! Arbeitet der Schlüsseldienst heute überhaupt? Am Nationalfeiertag? Die Leute sind doch alle am Brandenburger Tor und schauen sich auf der Großleinwand den David Hasselhoff an: I’ve been looking for freedom, I’ve been looking so long. Es werden Taschentücher und Bananen verteilt. Heute arbeitet doch niemand!“, denke ich panisch.
In spätestens einer Dreiviertelstunde sollte ich wieder in der Wohnung sein, rechne ich aus. Ich muss den Topf vom Herd nehmen, bevor er anfängt zu glühen! Bevor der Gasherd explodiert!
Mithilfe der Nachbarin erreiche ich nach vielen Versuchen endlich einen Schlüsseldienst. „Wird so zwei Stunden dauern, bis wir da sind“, sagt er gelassen. Ich schreie ins Telefon, dass ich nicht so lange warten kann, es sei dringend. 20 Minuten später trifft der Schlüsseldienst ein. „So“, sagt er und zückt ein Formular. „Dann machen wir erst einmal einen Kostenvoranschlag: 100 Euro Anfahrtspauschale. 80 für den Arbeitseinsatz. 50 Euro Feiertagszuschlag. 150 Euro für das neue Schloss. Sind Sie einverstanden?“, fragt er. „Dann bräuchte ich noch eine Unterschrift.“ Benommen nehme ich den Stift und unterschreibe. „Ja, dann mal los“, sage ich matt. Freundlicherweise fährt mich der gute Herr nach seinem Arbeitseinsatz zur Bank. Was für eine Abzocke, denke ich frustriert. Das passt ja perfekt zur Wiedervereinigung. Uta Chotjewitz
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