Konkurrenz radikal vernachlässigen

Berlin und Brüssel gelten als inoffizielle Tanzhauptstädte Europas. Austausch gibt es wenig. Im Radialsystem sind nun unter dem Motto „Radikal“ neun Tanzarbeiten aus Brüssel zu sehen

Das Sichtfeld radikal einschränken: Benjamin Vandewalle, „Walking the line“ Foto: DC Tine

Von Astrid Kaminski

Wenn es radikal genannt werden kann, sich zu beschränken, dann ist die Brüsseler Tanzszene, wie sie sich in den kommenden zwei Tagen im Berliner Radialsystem V präsentiert, tatsächlich „Radikal“. So zumindest lässt sich dem Veranstaltungstitel, mit dem das Brüsseler Stadtmarketing seine Kader unter der Schirmherrschaft der international bekannten Berliner Choreografin Sasha Waltz präsentiert, Sinn abgewinnen.

Während frühere Brüsseler Generationen gerne Chaos stifteten, um sich schrien, mit Dingen um sich warfen, klassische Musik in Fetzen zerlegten, am mit Tour-de-France-Geschwindigkeit drehenden Fahrradreifen onanierten, orgiastisch durchs Publikum turnten, kurz: sich dramapositiv in Selbstverschleiß-Choreografien stürzten, geht es inzwischen geradezu brav auf der Bühne zu. Zumindest in der von vier männlichen Kuratoren nach Berlin eingeladenen Auswahl.

Das, also das Brave, muss jedoch kein Manko sein. Wo jedes Tabu gebrochen ist, ohne dass die Reste vom Fest aufgeräumt worden wären, wo alle sich gegen alle radikalisieren, ist Selbstbeschränkung, Konzentration, Detailstringenz vielleicht das Gebot der Stunde. Brüssel tanzt durchgearbeitet bis ins Detail, virtuos ohne Angeberei, lässig ohne Schludrigkeit.

Um damit setzt sich die Ästhetik des Showcase deutlich vom Gros der Berliner Produktionen ab, die gerne mit Diskursmoden anbändeln, politisch und didaktisch sind, jeden Gedankenschnipsel sofort in Szene setzen: ironisch, kompromisslos, In-Yer-Face, mit viel gekonntem Gequatsche und so dilettantisch wie unter dem Druck der Zeit und der Mittel nötig. Dieser Vergleich hat natürlich etwas Touristisches. Brüssel hat eingeladen, und wie so oft sieht es anderswo erst einmal ganz anders aus, das Andere ist das Besondere und das Allzubekannte ein Chemiebaukasten mit zerfledderter Gebrauchsanleitung.

Den Vergleich Brüssel–Berlin einmal ins Rampenlicht zu rücken, ist dabei ein guter Schachzug der Belgier. Schließlich konkurrieren beide Städte seit einigen Jahren um den inoffiziellen Titel der Tanzhauptstadt Europas. Ab den 1990ern war Brüssel in dieser Beziehung zunächst konkurrenzlos – die flämische Politik hatte verstanden, dass es sich lohnt, in den zeitgenössischen Tanz zu investieren. Die Chance, dem internationalen Publikum als flämische Hauptstadt-Minderheit eine nichtsprachbasierte Kunst präsentieren zu können, stärkte die eigene Präsenz.

Ab den Nullerjahren zog Berlin dann langsam nach. Neben den Faktoren Coolness und niedrige Lebenshaltungskosten sowie langjähriger Aufbauarbeit der Szene in Eigenregie gab es seit der Gründung des Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (2007) auch hier ein Ausbildungsangebot, das qualitativ und quantitativ eine Rolle zu spielen begann.

In Brüssel übernimmt diese Funktion in weit größerem Umfang das Ausbildungszentrum P.A.R.T.S., das 1995 von der Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker gegründet und inzwischen von der flämischen Regierung angekauft wurde. 30 Auditions weltweit werden für jeden Jahrgang abgehalten, aus zuletzt 2.000 Anwärter*innen 46 für ein Studium ausgewählt. Diese Dimensionen sind für Berlin genauso unvorstellbar wie der Kanon, der dort gelehrt wird: Ballett, Modern, Postmodern, Contemporary in einem ausgeklügelten System aufeinander aufbauender Techniken. P.A.R.T.S.-Absolvent*innen sind meist so hervorragende wie vielseitige Tänzer*innen mit einem wiedererkennbaren, musikalischen Stil, der, ohne zu sehr zur Marke zu werden, die Szene prägt.

Warum der Blick auf die jeweils andere Stadt so selten ist, dafür gibt es Gründe

Voller seelischer Elastizität

Das ist auch im Showcase zu sehen. Besonders bei Louise Vanneste „Gone in a heartbeat“ oder in Salva Sanchis „Radical Light“ ist der Wechsel zwischen Improvisation und festgelegten Mustern, die ständige Permutation des Materials, die maximale Anwesenheit im Moment ein Erlebnis. Jeder Impuls wird in eine perfekte Bewegungsabfolge verwandelt, permanent ist der Puls spürbar, an dem die Bewegungen entlangperlen, ohne jemals in Konformität zu verfallen. Körper voller organischen Potentials, voller seelischer Elastizität.

Das Gegenteil davon zeigt Leslie Mannès in „Atomic 3001“: Harte Beats lassen sie zur cy­borgartigen Tanzmaschine werden. Anders eingekapselt hat sich Daniel Linehan. Er baut in Form von Büchern seine Diskursmasse um sich auf und verfällt beim Verdauen in einen Derwischtanz im Teilchenbeschleunigertempo. Anders radikal beschränkt sich Benjamin Vandewalle: Er schränkt bei einem Stadtspaziergang das Sichtfeld seiner Gäste durch kastenartige Spezialbrillen ein – eine Guckkastenbühne im Wortsinn.

Warum übrigens der Blick auf die jeweils andere Stadt so selten ist, auch dafür gibt es Gründe: Die beiden jungen Szenen haben schlicht kaum genügend Präsentationsorte und Budget für die vor Ort entstandenen Arbeiten. Die Konkurrenz kommt radikal zu kurz.

Radialsystem, 3. & 4. November