das ding, das kommt: Gänsehaut imGruselhaus
Wenn die Realität verwischt, Figuren und Objekte in einer Art Nichts versinken, ist das reine Physik – und pure Poesie. So wie Goethe den Erlkönig, ein Nebelstreif, so spät durch Nacht und Wind reiten ließ, ist das unscharf Wallende ein romantisch umraunter, von der Kunst häufig genutzter Effekt. Wer Zuschauer in ihrer Daseinsgewissheit verunsichern, mit ihren Ängsten konfrontieren, durch Alpträume schleusen will, setzt Nebel ein. Der auch als Metapher für Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, Umweltverschmutzung oder all die unoffenbarten Mysterien hinterm Alltagsschein genutzt wird.
So geheimnisvoll nebulierend zum „Dark Ride“ laden an diesem Halloween-Wochenende 14 Musiker des Hannoveraner Treppenhausorchesters in ein stadtbekanntes Geisterhaus, das Ihme-Zentrum. Regisseur Damian Schipporeit war früher Darsteller im Hamburg Dungeon, heute dreht er Filme, die abgründig mit dem Grusel verdrängter Geschichten spielen. Und weiß, wie man den Kitzel der Bedrohlichkeit erzeugt und zur Gänsehautproduktion animiert.
Mit handelsüblichen Nebelmaschinen. Der Klassiker wurde vom dem in Schenefeld bei Hamburg lebenden Günther Schaidt entwickelt. Sein 1984 mit dem Technik-Oscar ausgezeichneter Trick: mische destilliertes Wasser mit 1,2-Propylenglycol. Dieses Fluid wird beim Druck auf die Nebeltaste durch einen Verdampfer gepumpt, wo es in einer über 300 Grad heißen Spirale zu Gas und durch eine Düse in den Raum gepustet wird. In der kälteren Luft kondensiert es sofort zu mikroskopisch kleinen Tröpfchen und schwebt als Kunstnebelwolke malerisch zur Decke.
Betörend surreal funktioniert das in einem der zu durchwandernden Räume, dem von der Waldnatur zurückeroberten Wohnzimmer des Parcours. Franz Schuberts „Frühlingstraum“ erklingt dazu. „Ein Szenario als Anregung, die Natur in uns selbst zu hören“, so Schipporeit. Weiter zum Hazer, der den Nebel fein zerstäubt zu gleich bleibendem Dunst und so den ganzen Raum in milchig diffuse Atmosphäre taucht. Mitten durch die feuchten Gaspartikel tanzt ein Diaprojektorstrahl, der die stumme Bildergeschichte von Beton und Elend des Ihme-Zentrums erzählt. In getragenem Tempo spielt dazu ein Betonmischer etwas Geräuschhaftes.
Fehlt noch Nebulator 3: Trockeneis. Würde bei –80 Grad Celsius gefrorenes Kohlenstoffdioxid ausgelegt, schmilzt es nicht, sondern geht gleich in die Gasphase über und wabert als Kohlensäureschnee auf dem Fußboden herum. Darunter haben die Musikanten Kontaktmikrofone installiert, die jede Bewegung des Publikums in Klangimpulse übersetzt, die durch ein Hallgerät gescheucht werden. Dazu improvisiert ein Kontrabassklarinettist – und das schäbige Bürozimmer weitet sich zu einem sakralen Hallraum nebulöser Melodiefragmente.
Es sind diese abenteuerlichen Inszenierungen, mit denen das Treppenhausorchester besondere Situationen des Zuhörens schafft, um ein junges Publikum mit klassischer und Neuer Musik zu konfrontieren. Hoch akzeptiert inzwischen. Für „Dark Ride“ konnten 22.000 Euro Projektfördermittel eingeworben werden, so das auf’n Hut gespielt werden kann: Pay what you can.
Das Wandeln auf dem dunklen Pfad durch die vierte Ihme-Etage ist keine Geisterbahn äußerer Erschreckmomente, sondern ein nach innen gerichtetes Erlebnis. Es gibt keine Reiseleiter, keine erklärenden Texte. Die in Kleingruppen eingelassenen Besucher müssen sich allein durchschlagen, wenn Nebel und zunehmende Dunkelheit die Wegmarken der Realitätserfahrung, Raum und Zeit, so nach und nach verschwinden lassen. Als sauge der Veranstaltungsort seine Besucher ein – zum Verspeisen.
So erweist sich der Trip in die Schwärze als Variation des Grimm’schen Märchens von „Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“. Die Unsicherheit im Unbekannten versetzt den Körper in Alarmbereitschaft, sofort werden die Sinne geschärft. Was in diesem Fall der Musikwahrnehmung zugute kommt. Die als Belohnung denjenigen spendiert wird, die tapfer durch Pforten in stets neue Nebel schreiten – in denen die Treppenhäusler eine ganz klare Botschaft versteckt haben: „Habt keine Angst vor dem Fremden.“ Jens Fischer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen